Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
nicht hungrig sein würde, hatte ein nahrhaftes, würziges Suppengericht für sie zubereitet. Longsela wollte ihm eine Freude machen und zwang sich dazu, einige Löffel zu sich zu nehmen. Vor dem Zubettgehen schluckte sie dann ein starkes Schlafmittel. Sie wollte in dieser Nacht endlich, endlich einmal tief und richtig schlafen, um Paldor und den Kindern bei Tag ein ausgeruhtes Gesicht zu zeigen. Sie schlief wie ein Stein, erwachte spät und empfand sich beim Erwachen so leicht und schwebend, dass sie noch eine Weile liegen blieb und sich für kurze Zeit noch in einem Aufwind von Zuversicht glaubte. Die Sonne ließ Goldstaub auf ihren Strahlen tanzen, und Longsela hörte die vielen
Vögel, die sich im Garten versammelten. Sie wusch sich mit kaltem Wasser, flocht sorgfältig ihr Haar und blickte sich im Spiegel an. War sie gealtert? Ja, diese Falten um den Mund waren neu. Longsela zog eine kleine, wehmütige Grimasse, griff nach dem Lippenstift. Sie wollte nicht krank und verbraucht aussehen; sie wollte schön sein für Paldor und für die Kinder, die in wenigen Stunden bei ihr sein würden. Im Esszimmer stand das Frühstück bereit. Deva brachte knusprige Toasts, goss kochendes Wasser über das Nescafé-Pulver in Longselas Tasse. Sie nahm einen Schluck, sah auf die Uhr. Mit der Tasse in der Hand ging sie zum Radio. Die Nachrichten wurden gerade gesendet. Longsela nahm einen zweiten Schluck und erstarrte zu Eis. Der Nachrichtensprecher berichtete, dass eine indische DC-3 auf dem Flug von Darjeeling nach Lhasa kurz vor ihrer Landung verunglückt war. Die Maschine war in einer Gegend abgestürzt, die von den Rebellen kontrolliert wurde. Es gab keine Überlebenden.

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
    D ie Maschine sei nicht, wie zunächst angenommen, infolge einer Havarie abgestürzt, gab der Sprecher bekannt. Die chinesischen Ermittler hatten herausgefunden, dass das Flugzeug von den Rebellen abgeschossen worden war. Für gewöhnlich vergriffen sich die Kämpfer nicht an indischen Maschinen. Doch sie hatten offenbar erfahren, dass sich ein hoher chinesischer Beamter im Flugzeug befand. Es sei nun zu erwarten, sagte der Melder, dass sich die Chinesen aufs Grausamste rächen würden. Die indische Regierung sprach den Angehörigen der umgekommenen Passagiere ihr Beileid aus und versprach, ein Protestschreiben an Lhasa zu richten.
    Der Schock löste in Longsela keine Panik aus. Ihr Herz schlug kaum schneller als sonst. Vielleicht gab es einen ziemlich einfachen Grund dafür, dass sie so gefasst war: Sie war tief in ihrem Inneren auf diese Nachricht vorbereitet gewesen. Ihr herumirrendes Bewusstsein hatte auf einmal Ruhe gefunden. Sie konnte auch nicht weinen. Die Tränen trockneten sofort. In großen Bögen, wie ein Vogelschwarm, entfernte sich ihr früheres Leben von ihr. Paldor war tot, und sie war mit ihm gestorben. Ihr bisheriges Leben gab es nicht mehr. Nun bewohnte sie mit Paldor einen neuen Bereich, für alle anderen unzugänglich, einen Bereich, in dem sie sich küssten und umarmten und mit leiser Stimme lachten. Einbildung und Wirklichkeit, sie hielt es nicht mehr auseinander. Wozu auch? Fortan waren die Träume ihre einzige Zuflucht. Ihre Pflicht bestand darin, weiterzuleben. Sie musste jetzt Paldors Aufgabe
übernehmen, Yangzom und die Kinder aus dem Kampfgebiet holen.
    In Longsela erwachte eine Kraft, die schon immer in ihr gewesen war. Es war die urtümliche Kraft der Tibeter, die einst Nomaden gewesen waren, zäh, willensstark und beharrlich. Longsela wusste, dass sie keine Zeit verlieren durfte. Bald würde der Monsun kommen, Straßen und Bergpfade würden nicht mehr passierbar sein. Yeshe und Telsen machten umsichtig und schnell alles bereit. Telsen tauschte sein Gewehr gegen eine Pistole ein, die er gut verbergen konnte. Sogar Longsela konnte mit einer Pistole umgehen. Paldor hatte es ihr beigebracht. Sie hatte auf eine Zielscheibe geschossen und fast immer ins Schwarze getroffen. Aber niemals wäre sie fähig gewesen, ihre Waffe auf irgendein Lebewesen zu richten. Der Akt des Tötens war ihr als gläubiger Buddhistin verboten. Telsen hatte hitziges Blut und weniger Gewissensqualen. Für Longsela war es beruhigend, einen bewaffneten Mann in ihrer Nähe zu haben.
    Sie war geschickt im Organisieren. Ihre Liebenswürdigkeit bewirkte, dass die Leute ihr gern halfen. Zwar warnte sie der Arzt, der sie im Krankenhaus betreut hatte: Sie sei der Strapaze nicht gewachsen. Sie könne nicht warten, erwiderte Longsela. Der Arzt

Weitere Kostenlose Bücher