Das Haus der Tibeterin
gab ihr Tabletten, die ihre Kopfschmerzen etwas linderten. Longsela brachte ihre Finanzen in Ordnung und kaufte Goldbarren, die sie in einem Safe hinterließ. Sie bezahlte die Miete für den Bungalow für ein Jahr im Voraus, verabschiedete sich von Baba Rajendra, der versprach, den Dienstboten pünktlich ihren Lohn auszuzahlen. In Indien gab es Benzin, in Tibet nicht mehr. Alles Benzin wurde dort von den Chinesen für ihre Truppenkonvois beschlagnahmt. Folglich würde sie der Chauffeur bis zur Grenze bringen und dann wieder mit dem Wagen zurückfahren. Maultiere konnte man kaufen oder mieten. Longsela ließ sich Männerkleidung aus robustem Tuch im Basar anfertigen; in den Saum nähte sie dann ihre
Geldscheine ein. Den Rest des Geldes verteilte sie an Yeshe und Telsen, die die Scheine ebenfalls in ihren Kleidern verbargen. Das spätsommerliche Wetter war klar, als sie Darjeeling einige Tage später verließen. Über den Kreis der Vorberge, weich und dunkelgrün, mit blauen Nebelstreifen dazwischen, schwangen sich Schneegipfel wie ein Riesenbogen in den Himmel. Es wimmelte von herumflatternden Vögeln. Sie fuhren durch kleine Dörfer, umgeben von Pappelhainen und Maulbeerplantagen. Die Häuser waren aus rotem Backstein, die Straßen holprig und kurvenreich. Frauen in bunten Wickelkleidern waren bei der Ernte, Kinder mit bunten Holzperlen um den Hals hüteten Ziegen und klein gewachsene, gut genährte Kühe. Alles war friedlich. Doch je näher sie der Grenze kamen, desto drückender wurde die Stimmung. Die Chinesen hatten überall Stacheldraht gezogen. Sie zeigten ihren Unmut, weil Indien so viele tibetische Flüchtlinge aufgenommen hatte, und drohten mit Maßnahmen. Auch die Nachbarländer Bhutan und Sikkim wollten Scherereien aus dem Weg gehen und forderten die Flüchtlinge auf, nach Tibet zurückzukehren. Der Großteil der Flüchtlinge bestand aus Nomaden. Die indische Armee hatte Zelte für sie aufgestellt und teilte auch Nahrungsrationen aus. Die Flüchtlinge waren völlig unterernährt, litten an Hautkrankheiten, an ansteckenden Augeninfektionen, weil die Fliegen sich in ihrem Gesicht sammelten und sich vom Eiter ernährten. Die Menschen waren zu schwach, um sie zu verscheuchen. Die Kinder hatten aufgedunsene Bäuche und statt Haaren nur rötliche Büschel auf dem Kopf. Die Mütter hatten keine Milch mehr, die Säuglinge starben in ihren Armen. Kleine Jungen oder Mädchen mit Hungerödemen an den Beinen trugen Babys in schmuddeligen Wickeltüchern auf dem Rücken. Die Flüchtlinge erzählten, dass einige dieser Kinder von ihren Familien getrennt worden waren. Sie wussten nicht, wo ihre Eltern waren und ob sie noch lebten. Aber verlorene Kinder blieben nie sich selbst überlassen.
Sie fanden immer jemanden, der sich mitfühlend ihrer annahm.
Tag und Nacht verkündeten die Chinesen über Lautsprecher, Tibet sei jetzt ein freies Land ohne Klassenunterschiede. Sie forderten die Tibeter auf, sich vor den Grenzposten zu versammeln und einen weißen Schal an einem Stock zu befestigen, zum Zeichen, dass sie zurückkommen wollten. Sie hätten keinerlei Bestrafung zu befürchten. Die Flüchtlinge wussten, dass sie den Versprechen der Chinesen nicht trauen konnten. Was ihre Augen gesehen hatten, war für immer in ihre Netzhaut eingebrannt. Es sei denn, sie hatten keine Augen mehr, weil die Chinesen sie ihnen ausgestochen hatten.
Unter den Flüchtlingen befanden sich auch Adelige, die alles verloren hatten, und ihre Dienstboten. Zwar betonten die Chinesen immer wieder mit Nachdruck, sie seien gekommen, um der Leibeigenschaft ein Ende zu setzen. »Ihr seid frei!«, riefen sie den Dienstboten zu und erschossen sie als »laufende Hunde«, wenn sie ihren Herren treu blieben. Longsela und ihre Begleiter hörten entsetzliche Geschichten. Wie eng fühlten sie sich doch mit diesen Menschen verbunden, mit denen sie die Angst teilten! Lhasa sei bombardiert worden, hieß es, und dem Erdboden gleichgemacht. Die Volksarmee hätte den Potala unter Beschuss genommen. Viele Mönche und hohe Lamas hätten dabei ihr Leben verloren. Mit ihren Bomben hätten die Chinesen auch den Norbulingka-Palast verwüstet. Sie hätten die Stallungen in Brand gesetzt, die edlen Pferde geraubt oder als Zielscheibe für ihre Waffen benutzt. Um Seine Heiligkeit kreisten widersprüchliche Gerüchte. Er sei in Sicherheit; diese Nachricht jedenfalls war zuverlässig. Longsela weinte nie, sie konnte nicht mehr weinen. Angst und Trauer schnürten ihr die Kehle zu,
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