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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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sodass sie manchmal nicht sprechen konnte. Ob die Kinder und Yangzom noch in ihrem Haus waren? Ob das Haus überhaupt noch stand? Und was war aus dem kleinen Sommerpavillon beim Norbulingka geworden, den sie Ling
und An Yao überlassen hatte? Fragen über Fragen! Longsela schlief und aß kaum und wurde ihre Kopfschmerzen nicht los, obwohl sie gewissenhaft ihre Tabletten nahm.
    Inzwischen hatten Yeshe und Telsen drei Maultiere erstanden. Sie hatten ein gutes Auge dafür und Tiere ausgesucht, die genügsam und geduldig waren. Yeshe hatte auch erfahren können, wie man die Grenzposten umgehen konnte. Sie sollten bei Nacht reiten, sagten die Flüchtlinge. Es war Neumond, eine günstige Zeit. Longsela und ihre Begleiter machten sich auf den Weg. Wie Schatten bewegten sich die Reiter einen leise gurgelnden Flusslauf entlang. Die Schlucht war schattig und so eng, dass sie mehrmals das Wasser durchwaten mussten. Ein Stück weiter oben weitete sich der Felseinschnitt. Rings um den Horizont bildeten die Berge eine Festung aus Finsternis. Longsela hatte das eigenartige Gefühl, dass sie sich mit dem Himmel, der Heimat aller Toten, vereinigten. Später ritten sie durch Zedernwälder, wo Dunkelheit sie einhüllte und Zweige ihnen die Gesichter zerkratzten. Endlich lichtete sich der Wald. Die Maultiere bewältigten den Anstieg mit ihrem gewohnt sicheren Schritt. Das Plätschern des Wassers verklang, und der Wind, der bergaufwärts trieb, erstickte das Geräusch der Hufe. Und bei Tagesanbruch waren sie schon weit ins Gebirge vorgedrungen.
    In dieser Gegend gab es keine richtigen Pfade, sondern nur hin und wieder eine undeutliche Spur, die sich im Gebüsch oder zwischen Steinen verlor. Aber Tiere und Menschen mit geübtem Fuß konnten diesen Weg wohl passieren. Die Maultiere liefen mit gesenktem Kopf, fanden stets die richtige Stelle, wo sie sicher auftreten konnten. Das Schweigen der Berge wurde noch bedrückender, sobald die bitterkalte Nacht hereinbrach. Die Decken wurden ausgepackt, die Vorräte jedoch ungekocht gegessen, und es wurde nur Wasser getrunken. Sie hatten zwar Brennholz bei sich; ein Licht, und wäre es noch so winzig gewesen, oder die Wärme eines Feuers hätte ihnen Geborgenheit
schenken können. Aber jede flackernde Glut, jedes Rauchzeichen war gefährlich. Die Chinesen hatten Feldstecher und mochten überall sein. Tags zuvor hatten sie eine Anzahl Soldaten gesichtet, die über einen Hang kletterten. Dann und wann drang auch das Knattern eines Maschinengewehrs bis zu ihnen; trocken und fern, wie Knöchel einer Gespensterhand, die auf einen Blechtopf trommelte. Die Berge mochten hoch sein, die Täler einsam und tief, die Volksarmee ließ die Flüchtlinge niemals in Frieden! Longsela und ihre Begleiter ritten auf schmalen Pfaden oder durch Buschwerk, ständig mit der Furcht im Nacken, in feindliches Gebiet zu geraten. Longsela ließen die Kopfschmerzen keine Ruhe. Sie waren unterwegs schlimmer geworden. Sie nahm jeden Abend ihre Tabletten, lag still da und klagte nicht. Sie träumte, dass Paldor neben ihr lag, eingehüllt in den warmen Hauch ihrer Liebe. Doch nur die Einsamkeit war da, die über die Berge zog, sie fest an die kalte Erde drückte, und jede Nacht erschien ihr so lang wie vier Nächte hintereinander. Gelegentlich bezog sich der Himmel, Regen fiel, mit Schneeflocken vermischt. Dann wieder schien die Sonne heiß und so grell, dass Longsela ihre dunkle Brille aufsetzen musste. Und so ritten sie weiter; drei Tage vergingen. Longsela saß gebückt und schwerfällig im Sattel, sprach wenig, sparte ihre Kräfte. Die Müdigkeit drang ihr unter die Haut, lähmte jeden Muskel. Am Ende des vierten Tages, an der Mündung eines Bergbaches, entdeckten sie Birkenstämme, über zwei Felsen gespannt, mit großen Steinen beschwert. Reisende hatten hier eine Brücke gebaut, denn das schäumende Wasser war zu tief, als dass sie es hätten durchwaten können. Weit unten hing das wehende Band des Wasserfalls, der Wind versprühte den Dunst, noch ehe er den Boden berührte. Die Reiter stiegen aus dem Sattel, führten ihre Maultiere am Zügel und kamen ohne Schaden über den wackligen Steg. Yeshe glaubte sich zu erinnern, dass es in der Nähe ein »Gompa« - ein Kloster - gab, das Reisende aufnahm. Das Kloster trug den
Namen Dampa Sangye, zu Ehren eines indischen Heiligen, der siebenmal in Tibet seine Lehre verkündet hatte.
    »Wir sind gleich da!«, rief er freudig.
    Vor Longselas geröteten Augen tauchten verlockende Bilder

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