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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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auf: Mauern, ein schützendes Dach. Ein wärmendes Feuer nach der eisigen Kälte. Schimmernde Kupferkessel. Die freundlichen, vertrauten Gesichter der Mönche. Ein Tempelraum, weihrauchumwölkt, das Summen der Klosterglocke in der Morgendämmerung, das hölzerne Rasseln, das den Takt zum nasalen Gesang der Betenden schlug. Und weil Longsela in ihrer Ermüdung weder Zeit noch Raum mehr wahrnahm, schien ihr, als führte sie ihr Maultier von selbst zu dieser Zuflucht, ja, als wiege das Tier sie wie einst die Hand ihrer Mutter in wohltuenden Schlaf. Wodurch erwachte sie auf einmal? War es ein unbedachter Schritt ihres Maultiers? Oder war es Yeshes Stimme, die etwas rief, das sie nicht verstand? Longsela öffnete die Augen und war von einem Atemzug zum anderen hellwach. Denn Yeshe und Telsen hatten ihre Tiere angehalten und besahen sich den feuchten Boden, auf dem sich eine Anzahl Spuren abzeichnete. Mönche gingen barfuß oder trugen Sandalen. Was sie hier sahen, waren die Abdrücke von Schuhen mit Nägeln. Solche genagelten Schuhe trugen nur Soldaten. Eine chinesische Abteilung war kürzlich vorbeigekommen. Stumm und angstvoll betrachteten sie das drohende Gewirr dieser Spuren. Sie waren nicht mehr frisch, und darüber konnten Longsela und ihre Begleiter nur froh sein. Weil ihre Frontlinie ständig in Bewegung blieb, war die Brigade wohl längst weitergezogen. Longsela sah fragend zu Yeshe hinüber.
    »Ich weiß nicht, was sie hier zu suchen hatten«, brummte schließlich der alte Mann. »Aber ich glaube, dass sie fort sind.«
    Longsela nahm an, dass die Chinesen die Mönche gezwungen hatten, sie mit Nahrung und Trinkwasser zu versorgen. Womöglich hatten sie das Kloster sogar geplündert. Vorsichtig
ritten sie weiter. Als der Bach hinter den Felsen verschwand, trat Stille ein. Eine eindrucksvolle Stille, ungewöhnlich selbst für diese Landschaft, in der auch sonst nur wenige Geräusche vorkamen. Keine Dohle schrie, keine Felstaube gurrte. Longsela meinte die Stille in ihren Ohren sirren zu hören. Ob es irgendwo in der Welt noch Lebewesen gab? Das Kloster sei ganz in der Nähe, hatte Yeshe gesagt. Aber wo denn, wo? Longselas Mund war trocken, und sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wenn ich könnte, dachte sie, würde ich jetzt umkehren. Und kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, als die Maultiere plötzlich scheuten. Sie zitterten und bockten und kauten auf ihrem Gebissstück.
    »Chinesen?« Telsen wandte sich zu Yeshe um. Sein jugendliches Gesicht war bleich und angespannt, und er griff sofort zur Pistole. Longsela sah ihn an und schüttelte den Kopf. War Militär in der Nähe, würde ihnen eine Pistole nichts nützen. Yeshe runzelte die Stirn. Was seinen heißblütigen Neffen anging, hielt er die Zügel straff.
    »Nur ruhig, Junge. Sie sind nicht da. Wir würden sie hören.«
    Sie tauschten Blicke. Ja, Chinesisch war eine Sprache, die sehr laut gesprochen wurde. Telsen ließ die Pistole verschwinden und beherrschte seine Erregung hinter einer Maske wachsamer Verstimmtheit. Longselas böse Ahnung nahm zu. Je weiter sie ritten, desto weniger gefiel ihr die Sache. Vom Rumpf der Maultiere stieg ein herber Geruch auf. Ihr Fell war glitschig vor Schweiß. Sie krümmten den Rücken, taten jeden Schritt nur widerwillig. Schließlich stiegen sie ab, zogen die Maultiere am Zügel. Noch immer drang kein Laut, keine Stimme zu ihnen hinüber. Nichts regte sich weit und breit. Die Grabesstille, die über dem Ort lag, schien nicht zu dieser Welt zu gehören. Es war eine Stille, die jedes Wort schluckte und den Aufprall der Steine, die die Tiere mit ihren Hufen lostraten, lauter hören ließ.
    »Da!«, rief Telsen plötzlich.

    Von Weitem sahen sie nur einen schwarzen Fleck, der unter einem Busch lag.
    »Was ist das?«, murmelte Longsela.
    Telsen zog tief und argwöhnisch die Luft ein.
    »Es stinkt, ich weiß nicht, wonach. Mir ist nicht wohl, Herrin. Nein. Ehrlich, mir ist nicht wohl!«
    Sie stapften dem dunklen Fleck entgegen. Die Maultiere sträubten sich, zeigten das Weiße ihrer Augen. Longsela würgte es in der Kehle, als sie erkannte, dass es ein Leichnam war. Der Tote, der da unter dem Strauch lag, trug eine Mönchsrobe; die Leiche war so grässlich entstellt, dass Longsela den Blick abwenden musste. Einen Leichnam zu sehen erweckte in ihr ein Gefühl, als sei sie selber tot; es war wie eine Vorwegnahme, eine Blaupause des eigenen Endes. Sie sprachen kein Wort. Doch Yeshe gab Telsen mit einem Wink zu

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