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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Longsela die Decke über ihn aus und flößte ihm langsam Wasser ein, das er unter Schmerzen schluckte. Dann legte sie ihre nassen Hände auf sein Gesicht. Der Gefolterte genoss die Kühle. Obwohl es unverkennbar war, dass sein Ende nahte, entspannten sich seine Züge. Er sprach jetzt deutlicher.
    »Die Mönche ließen uns … hier schlafen. Die Chinesen kamen im Morgengrauen. Sie hatten Maschinengewehre …«
    »Wann?«, fragte Longsela.

    »Vor zwei Tagen. Kanam wollte uns hier treffen …«
    »Kanam?«, murmelte Longsela, in der sich eine Erinnerung regte.
    »Er ist unser Anführer. Aber er kam … zu spät. Er rief nach uns. Mich hörte er nicht. Der Wind. Er dachte, alle sind tot. Bevor er davonritt, sagte er zu seinen Männern, dass er uns rächen würde. Ich dachte an das, was vorher war. Und ich war froh, dass er das gesagt hatte …«
    Er flüsterte die Worte vor sich hin. Ein ganzer Nebel von Erinnerungen fand sich in Longselas Kopf zusammen. Sie gesellten sich zu allem anderen, wurden wie Abschnitte aus einer Geschichte, die ihre eigene war. Sie antwortete traumbefangen.
    »Ich glaube, dass ich ihn kenne. Vor langer Zeit waren wir Gast in seinem Zelt. Mein Vater, der Arzt war, pflegte Alo, seinen kleinen Sohn.«
    »Alo ist jetzt ein Kämpfer«, sagte der Sterbende. »Ich … ich heiße Dasang.«
    Er sprach so leise, dass sie dachte, dass es mit ihm vorbei war. Doch nein.
    »Tesla, seine Mutter, war meine Schwester.«
    Longsela spürte eine Bewegung hinter ihr. Ein Umhang fiel auf ihre Schultern.
    »Euch ist kalt, Herrin.«
    »Danke, Telsen.«
    Er entfernte sich. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gefolterten zu. »Ist Tesla noch am Leben?
    »Nein, sie ist tot.«
    Wegen der Tränen, die zitternd an ihren Wimpern hingen, konnte Longsela sein Gesicht nicht mehr deutlich erkennen. Sie empfand diese Tränen wie eine Gnade.
    »Tesla schenkte mir ihre Kette. Ich trage sie heute noch.«
    Sie schob den Ausschnitt ihres Kleides zurück. Sanft ergriff sie die blutige Hand, führte sie hinauf an die Kette. Seine Finger tasteten über die Steine - sehen konnte er ja nicht mehr.

    »Ja, ich erkenne sie. Es sind Teslas Dzi-Steine. Sie hatte sie … von der Großmutter. Halte sie in Ehren!«
    Longsela antwortete stockend, wie in Trance.
    »Man sagt, dass sie Wünsche erfüllen.«
    »Dann wünsche, dass ich jetzt sterbe«, sagte Dasang.
    Longsela erkannte die Unmöglichkeit dieses Wunsches und gleichzeitig seine Notwendigkeit. Sie nickte, als begreife sie das, und sagte leise: »So soll es sein.«
    Sie nahm seine Hand und hielt sie fest. Mit der freien Hand zog sie ihre kleine Gebetsschnur aus der Brusttasche ihres Gewandes, ließ die Perlen durch ihre Finger gleiten und sprach das Gebet, das man an den barmherzigen Buddha richtet, wenn ein Angehöriger im Sterben liegt. Es besteht eine Verwandtschaft zwischen Menschen, die an einem flackernden Zeltfeuer gesessen und an ihm den Wert ihrer Freiheit ermessen haben. Longselas Gebet schien Dasang Frieden zu schenken. Nach einer Weile ging sein Atem so ruhig, dass sie ihn nicht mehr hören konnte. Er schwand dahin. Als Longsela schon dachte, dies sei das Ende, da verzogen sich Dasangs verkrustete Lippen noch einmal zu einem Lächeln.
    »Danke, dass du für mich gebetet hast.«
    Das waren seine letzten Worte. Sein Kopf sank zurück, und sein verschwollenes Gesicht wurde klar und ruhig. Mit einem Seufzer stieg sein starker Geist, von allen Schmerzen entbunden, in das Freie, das Unentdeckte, in dem es tausend Wege gab.
    Longsela löste seine Finger, in denen noch ein Hauch Wärme war, aus den ihren. Eine Weile betrachtete sie sinnend ihre leer liegenden Hände. Dann erhob sie sich, machte taumelnd einige Schritte, lehnte sich an die Mauer und erbrach sich fast das Herz aus dem Leib. Als sie zurückkam, klebte ihr Unterkleid schweißnass am Körper. Sie fror im eisigen Wind und zog ihren Umhang enger um sich. Die Kälte klebte an ihr, so dicht und fest, dass sie ihr unter die Kleider drang,
unter die Haut. Ihre Schultern, ihr Hals waren steif geworden, fühlten sich an wie hartes Holz. Während Telsen und Yeshe neben dem Toten beteten, blickte Longsela zum Abendhimmel empor. Dort, wo ein letzter roter Schimmer glühte, hing ein einsamer Stern zwischen den Wolken. Zwei Geier schwebten dicht über den Ruinen, auf der Suche nach einer letzten Beute vor der einbrechenden Nacht. Sie ließen sich abwartend zwischen den Steinen nieder, zischelten leise und putzten ihr Gefieder.

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