Das Haus der Tibeterin
verstehen, er solle die Maultiere abseits halten. Er selbst und Longsela setzten ihren Weg fort. Nach ein paar Schritten stießen sie auf einen zweiten Leichnam. Man konnte sein Gesicht nicht sehen. Sein Kopf lag in einer Pfütze, zusammen mit dem Gras festgefroren, sodass es einen festen, toten Klumpen bildete. Er hatte den rechten Arm ausgestreckt, die Finger verkrampft, doch der Zeigefinger schien deutlich auf den Klosterbau zu weisen, der am Rand einer Schlucht an der Felswand klebte. Es war eine Felsenburg, wie es früher viele gegeben hatte, von Mönchen bewohnt, die ein Leben in Abgeschiedenheit führten. Ein Teil der alten Burg war verbrannt, die Balken ragten verkohlt empor. Beißender Qualm stieg an manchen Stellen aus der noch schwelenden Glut. Yeshe sah Longsela an, mit Qual in den Augen.
»Vielleicht ist noch jemand am Leben. Doch es ist besser, ich gehe allein, Herrin.«
Sie schüttelte stumm den Kopf und folgte ihm auf ihren Filzstiefeln mit lautlosen Schritten. Es bestand kaum Hoffnung, dass ein Mönch das Gemetzel überlebt hatte, aber sie wollten
sicher sein. Longsela glaubte auch plötzlich, einen Laut gehört zu haben; sie hob die Hand, blieb lauschend stehen. Doch sie musste sich geirrt haben. Wenn der Wind in den Trümmern summte, mochte man meinen, dass Lebewesen stöhnten. Sie wagte auch nicht zu rufen, aus Furcht, dass womöglich die Chinesen nicht weit waren und zurückkamen.
Die meisten Leichen lagen in der Nähe des Klosterportals, als ob sie sich aus dem Kloster gestürzt hatten, um dem Feind zu begegnen. Eingekeilt zwischen der Schlucht und der Felswand waren die Belagerten bis zum letzten Verteidiger vernichtet worden. Die meisten waren Mönche, und schrecklich zugerichtet. Doch zwischen den Leichen der Mönche lagen auch Männer mit langem Haar, die die roten Kopfbänder der Nomaden trugen. Die meisten waren nackt; man hatte ihnen Stiefel, Kleider, Schmuck und Fellmäntel abgenommen. Auch ihre Pferde waren erschossen worden, ebenso die Haustiere der Mönche, die kleinen Hunde, die Ziegen. Schwankend stand Longsela vor dem schrecklichen Anblick. Die Sonne war am Verglühen; die Nacht hing mit roten Wolken am Himmel. Longsela spürte im Kopf eine Art schwebenden Irrsinn, der ihren Geist wie eine Luftblase hin und her gleiten ließ. Was kann ich für euch tun, ihr Toten? Ich kann euch nicht wecken, das Blut nicht wärmen, die Wunden nicht heilen, die Knochen nicht zusammensetzen. Ich kann nur für euch beten. Sie hörte ein Schluchzen und sah, wie Yeshe auf den Boden sank, sich im Schmerz hin und her wiegte. Longsela sah, wie seine Nägel sich in die Stirn gruben. Still wanderte sie zwischen den Toten, sah einige Ratten, die sich bewegten. Ihre Knie taten so weh, dass sie immer wieder stolperte. Irgendwo in der Nähe war etwas, dem sie ihre Aufmerksamkeit schenken musste, eine Sache, die ihr Denken beschäftigte. Sie wusste nicht, was es war. Da holte Telsen, der die Maultiere abseits angebunden hatte, sie mit schnellen Schritten ein. Er streckte die Hand aus, und sie legte ihre leichten, kräftigen Finger auf seinen Arm.
Bei jedem Schritt spannte sich ihre Stirn schmerzhafter, schlug ihr Herz heftiger, stieg die Gänsehaut ihr über Hals und Arme. Auf einmal lief ein weiches Geräusch von Flügeln über die Ruinen, und Longsela sah Geier kreisend emporsteigen. Als sie sich entfernt hatten, hörte sie ein Stöhnen, einen schwachen Ruf, und machte einen raschen Schritt vorwärts. Telsen, der es auch gehört hatte, hielt sie zurück.
»Herrin, sei vorsichtig!«
»Still!«
Longsela schob seinen Arm beiseite, ging schnell und vorsichtig um einen Haufen Trümmer herum. Hinter dem Schutthügel lag ein Mann, der noch am Leben war. Man hatte ihn auf ein Brett gelegt und mit Seilen festgebunden. Der Mann war grausam gefoltert worden; ein paar Atemzüge lang starrte Longsela ihn nur an, fassungslos darüber, dass er überhaupt noch Atem in sich hatte.
»Wasser!«, stöhnte der Sterbende.
Telsen stürzte davon. Longsela nahm die Hand des Mannes und streichelte sie, ohne ein Wort. Seine Haut war heiß und trocken, sie spürte das hohe Fieber in ihm. Der Himmel hatte sich purpurn gefärbt, die Nacht dehnte und streckte sich aus. Ab und zu flammte in der Ferne ein Blitz auf, so rasch, dass das Auge ihn kaum wahrnehmen konnte. Schon kam Telsen mit Yeshe zurück, brachte die Feldflasche und eine Decke. Während Yeshe sich behutsam daranmachte, die Fesseln des Gefolterten zu zerschneiden, breitete
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