Das Haus der toten Mädchen
waren furchtbar spießig – als ob sie nicht selbst in jungen Jahren geraucht hätten. Sogar ihre Schwester, die Tugendhaftigkeit in Person.
Immerhin, hier war ein Hoffnungsschimmer. Im Flur, auf dem Weg zum Bad, kam ihr Sophie entgegen, und ausnahmsweise erwiderte sie deren „Guten Morgen“ nicht mit einem Knurren. Wer weiß, vielleicht würde sich Colby, Vermont, doch noch von einer besseren Seite zeigen. Vielleicht würde sie doch nicht davonlaufen müssen.
Sophie öffnete die Tür so leise wie irgend möglich. Graceys entspanntes Gesicht wirkte seltsam jugendlich; sie schlief seelenruhig unter ihren zerknautschten, weichen Decken. Kein Wunder, ihre Expedition letzte Nacht musste sie ziemlich erschöpft haben.
Was, um Himmels willen, hatte ihre Mutter zum alten Whitten-Haus getrieben? Bisher hatte sie nie das geringste Interesse daran gezeigt. Normalerweise lief sie überhaupt nicht in der Gegend herum – es war schon das höchste der Gefühle, wenn Doc sie überreden konnte, mit ihm und seiner Frau in ihrem Häuschen im Dorf zu Abend zu essen. Ansonsten blieb sie in ihrem Zimmer oder auf der Veranda und summte mit leerem Blick leise vor sich hin.
Wenn ihre Mutter jetzt anfing auszubüxen, hatte Sophie ein Riesenproblem. Das Geld war so knapp, dass sie nicht wusste, wovon sie eine Aufpasserin bezahlen sollte, und sie selbst konnte sich das, bei all ihren sonstigen Pflichten, nicht auch noch aufbürden. Sie konnte natürlich Marty darum bitten, aber es stand zu befürchten, dass das Mädchen zwar missmutig einwilligen, ihre Stiefmutter dann aber doch vergessen würde. Und der Gedanke, dass Grace sich in den einsamen Wäldern rings um den See verirren könnte, war Sophie schier unerträglich.
Gracey schnarchte leise – es klang eher nach Katzenschnurren als nach menschlichen Lauten. Neben ihrem Bett waren Bücher aufgestapelt, und eines lag aufgeschlagen auf der schlichten weißen Tagesdecke. Sophie musste gar nicht genauer hinsehen, um zu erkennen, dass es einer dieser reißerischen Verbrechensberichte war. Das verschwommene Titelfoto ließ keinen Zweifel am Genre zu. Eigentlich hätte sie froh sein müssen: Zum ersten Mal seit Monaten zeigte Gracey wieder Interesse an etwas. Selbst ein so düsteres, makabres Hobby war dem verträumten Dämmerzustand vorzuziehen, in dem sie in der letzten Zeit vor sich hin vegetiert war.
Das musste sie Doc erzählen. Es würde ihn freuen; er hatte ihr immer gesagt, Gracey müsse wieder etwas finden, an dem sie Anteil nahm. Nun war ihre Mutter einfach zu ihrem alten Interessengebiet zurückgekehrt, aber immerhin las sie jetzt wieder und beschäftigte ihren Verstand, anstatt mit glasigem Blick auf den kalten, klaren See hinauszustarren.
Gracey bewegte sich erneut und murmelte etwas Unverständliches. Sophie machte kehrt und schloss leise die Tür hinter sich, um sie nicht zu wecken. Zumindest solange sie schlief, war Grace nicht in Gefahr. Aber nach der Aufregung um den nächtlichen Ausflug ihrer Mutter würde Sophie selbst wohl erst recht keine Nacht mehr durchschlafen können.
Sie nahm ihre Kaffeetasse mit auf die vordere Veranda, legte die Beine auf das Geländer und ließ den Blick über den See schweifen. Es waren schon ein paar Fischer unterwegs, und drüben vor dem Whitten-Haus zogen einige wilde Enten in aller Ruhe ihre Bahnen. Um diese Zeit befanden sich die Motorboot-Raser und Jet-Ski-Spinner noch im Tiefschlaf oder beim Frühstück. Bis jetzt war alles friedlich und leise; es gab nur die Vögel und die Fischer und hin und wieder ein Kajak, das fast lautlos durch das ruhige Wasser glitt. Grace lag noch sicher im Bett, und sogar Marty war heute Morgen zur Abwechslung fast freundlich gewesen. Im Moment konnte Sophie einfach dasitzen und die friedliche, ruhige Stimmung genießen, was ihr ein Gefühl von Sicherheit und Gelassenheit gab.
Sie schloss die Augen und ließ die Düfte und Geräusche auf sich einwirken. Dann jedoch riss sie die Augen wieder auf: Ihr war gerade bewusst geworden,
welches
Buch Gracey vor dem Einschlafen gelesen hatte.
„Mord im Northeast Kingdom“ war ein widerlicher, reißerischer Bericht über die Colby-Morde, den ein bekannter True-Crime-Autor verbrochen hatte. Sophie verachtete solche Art von Literatur. Doc und die anderen Alteingesessenen hielten das Buch für sensationslüsternen, fehlerstrotzenden Schrott. Gracey teilte diese Vorbehalte offenbar nicht.
Das war doch seltsam: Als kurz nach ihrem Eintreffen in Colby Graceys
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