Das Haus der toten Mädchen
letzte Sturm umgerissen hat, und jetzt wollte ich die Blumenbeete an der Ostseite des Hauses jäten. Oder will sie, dass ich erst etwas anderes erledige?“ Er hatte keinen Vermont-Akzent, Gott sei Dank. Nicht, dass sie etwas gegen das typische Yankee-Näseln des Northeast Kingdom hatte, aber bei einem Kerl, den sie zu verführen versuchte, wollte sie es lieber nicht hören.
„Ich habe nicht die blasseste Idee“, erwiderte Marty. „Ist es nicht Zeit für eine Pause? Du arbeitest seit Stunden ohne Unterbrechung.“
„Ich habe um elf Pause gemacht. Und um eins esse ich zu Mittag.“
„Woher weißt du, welche Seite des Hauses die Ostseite ist?“ fragte sie neugierig.
„Jeder Idiot weiß, wo Osten und wo Westen ist“, meinte er mit kaum verhohlener Ungeduld. „Kann ich noch irgendwas für dich tun? Sonst mache ich jetzt nämlich weiter.“
Jemand hatte ihr mal gesagt, dass sie einen besonders aufreizenden Schmollmund hatte, also probierte sie ihn aus. „Magst du mich nicht?“ erkundigte sie sich beleidigt.
Er ließ seinen Blick langsam über ihren Körper wandern, von den Füßen mit den blau lackierten Zehennägeln und den drei Zehenringen über die bewundernswert langen Beine und den entblößten Bauch bis hinauf zu ihrem fuchsienrot gesträhnten Haar. Und dann zuckte er, offenbar unbeeindruckt, mit den Schultern. „Ich kenne dich ja gar nicht. Sollte ich?“
Martys sexy Schmollmiene verwandelte sich in einen missbilligenden Gesichtsausdruck. „Sag du’s mir.“
„Ich habe versucht, dir klar zu machen, dass ich zum Arbeiten hier bin. Wenn du also keine Botschaft von deiner Schwester zu überbringen hast und auch sonst keinen Auftrag für mich, würde ich vorschlagen, dass du mich einfach weitermachen lässt.“
„Oh, ich habe schon einen Auftrag für dich“, entgegnete Marty mit einem sanften Gurren.
„Nämlich?“
„Fahr zur Hölle.“
Stinksauer stolzierte sie davon. Auf Sophie war wirklich Verlass: Nur um Marty die Suppe zu versalzen, hatte sie den bestaussehenden Schwulen engagiert, den sie in dieser Gegend auftreiben konnte. Egal: Es gab hier ja noch andere Jungs. Und Männer. Marty hatte sich bisher nur noch nicht richtig umgeschaut. Vielleicht konnte sie sich nachher von Doc in die Stadt mitnehmen lassen. Doc war ihr zwar nicht ganz geheuer, aber das traf im Grunde auf die meisten alten Leute zu. Vielleicht konnte sie …
„Hey.“
Sie wollte gerade um die Ecke des Gasthauses biegen, als sie seine Stimme hörte. Zwar wäre es ungeheuer cool gewesen, einfach weiterzugehen, aber ihre Neugier gewann die Oberhand. Sie drehte sich um und funkelte ihn an. Ihre Wut berührte ihn offenbar ebenso wenig wie zuvor ihr süßer Schmollmund.
„Was willst du?“ fuhr sie ihn an.
„Ich esse mein Mittagessen unten am See“, verkündete er. „Um eins.“
„Und warum sollte mich das interessieren?“
Er grinste. Sie musste zu ihrem Ärger feststellen, dass er das gewinnendste Lächeln hatte, das sie in ihren beinahe achtzehn Jahren erblickt hatte. „Sag du’s mir“, meinte er. Und dann drehte er ihr den Rücken zu und schlenderte leise pfeifend davon.
Als sie um die Hausecke stapfte, sah sie, dass Doc sich gerade erhob und Grace die Hand tätschelte. „Ich bin um fünf wieder da“, versicherte er ihr.
Die perfekte Gelegenheit. Sie konnte mit Doc nach Colby hineinfahren und sich sogar wieder von ihm zurückkutschieren lassen – sofern sie sich dazu durchringen konnte, je wieder an diesen Ort, der den Inbegriff der Langeweile darstellte, zurückzukehren. Das klang nach einer einfachen Entscheidung: entweder mit Doc in die Freiheit fahren, wenigstens für ein paar Stunden – oder diesen Klugscheißer treffen, und zwar unten am See, wo jeder sie beobachten konnte.
Da gab es kein Vertun: Sophies neuer Hilfsarbeiter war mit Abstand der heißeste Typ, den sie seit ihrer Ankunft in Colby getroffen hatte, und sie hatte allen Grund zu bezweifeln, dass sie bei Audley’s etwas Vergleichbares finden würde. Wenn das Schicksal beschlossen hatte, ihr so ein Bild von einem Mann frei Haus zu liefern, dann war sie bereit, nichts unversucht zu lassen.
Außerdem konnte sie Doc wirklich nicht leiden. Dass ihre Schwester und Grace sich ihretwegen Sorgen machten, mochte ja gerade noch angehen, aber ein Fremder hatte sich gefälligst aus ihrem Leben herauszuhalten. Sie war nicht Docs Patientin, und was sie mit ihrer Zeit anfing, ob sie rauchte und wen sie traf, war nun wirklich nicht sein Bier. Und
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