Das Haus der toten Mädchen
sie so auf den nervtötendsten Kerl an, der ihr je begegnet war? Ausgerechnet in dieser Phase ihres Lebens!
Sie ließ sich die Gedanken, die ihr durch den Kopf jagten, nicht anmerken. „Ich gehe jetzt besser“, verkündete sie schließlich.
Er beobachtete sie. Er lehnte sich träge an den Verandapfosten, als hätte er nichts Besseres zu tun, als sie zu ködern. Vielleicht gaukelten ihre Gefühle, die dicht hinter der betont ruhigen Fassade verrückt spielten, ihr diesen Eindruck nur vor. Vielleicht war er trotz seiner lässigen Pose ebenso angespannt wie sie. Sie konnte überhaupt nicht einschätzen, was hinter seinem rätselhaften Gebaren steckte.
„Ja“, stimmte er ihr zu, machte aber keinerlei Anstalten, ihr den Weg zu den Stufen freizugeben. „Aber sagen Sie mal, was, zum Teufel, haben Sie da eigentlich an?“
Höchstwahrscheinlich konnte er die Röte, die ihr ins Gesicht stieg, gar nicht erkennen. Sie zog sich das Tuch enger um die Schultern. Für Ende August war die Nacht recht warm, sie trug ein edwardianisches Nachthemd, aber er gab ihr das Gefühl, nackt dazustehen.
„Haben Sie noch nie ein Nachthemd gesehen? Ich hätte gedacht, ein Mann von Ihrer immensen Erfahrung hätte schon reihenweise Frauen in Nachthemden gesehen.“ Shit. In ihrem Bemühen darum, cool und bissig zu sein, hatte sie wieder das Thema Sex angeschnitten – zwar nur indirekt, aber nun stand es wieder zwischen ihnen. Und sie wollte mit John Smith (wer zum Teufel das auch war) nicht über Sex reden.
Seine Reaktion beschränkte sich auf ein leichtes Anheben dieser überaus attraktiven Mundwinkel. Das reichte auch. „Ich muss zugeben, dass die meisten Frauen, mit denen ich schlafe, nackt sind. Und
so etwas
tragen sie ganz sicher nicht. Sie sehen aus wie eine sitzen gelassene Braut. Fehlt nur noch ein Bukett welker Blumen und ein zerfetzter Schleier, dann könnten Sie hier stilecht herumspuken.“
Geister waren auch kein besseres Thema als Sex. Nicht, wenn sie den Tatort eines alten Mordfalls passieren musste.
„Es ist ein Nachthemd, und ich kann Ihnen verraten, dass ich es bei ‚Victoria’s Secret‘ gekauft habe!“
„Nicht bei dem ‚Victoria’s Secret‘, das
ich
kenne. Vermutlich halten Sie das für sexy.“
„Ich halte es nicht für sexy!“ widersprach sie ihm.
„Warum tragen Sie es dann?“
„Weil mir Sex egal ist.“
Shit.
Er hatte sie in die Falle gelockt. Und sie hatte gelogen:
Früher
war Sex ihr relativ egal gewesen, aber er hatte sie nur küssen müssen, und schon hatte sie an nichts anderes mehr denken können. Und warum, verflixt noch mal, hatte er nicht mehr an: Seine Brust, sein Bauch, alles an ihm zog ihre Blicke an und weckte in ihr ungeahnte Begierden.
Er stieß sich von dem Pfosten ab, und sie hoffte schon, er werde sie jetzt gehen lassen. Doch sie irrte sich. Er kam direkt auf sie zu, und sie hatte keine Chance, ihm auszuweichen. Im Rücken spürte sie die Gittertür, und die Flucht nach vorne verhinderte sein großer Körper. Seine mondbeschienenen Schultern. Sein Mund.
„Ach ja?“ fragte er leise. Er streckte die Hände aus, griff nach ihrem Tuch und zog es ihr von den Schultern. Vergeblich versuchte sie, es festzuhalten: zu spät. Er ließ es auf den Verandaboden fallen, neben ihre nackten Füße, die unter dem Rüschenrand ihres Nachthemdes hervorlugten. Dann wandte er sich den Perlenknöpfen an ihrem Hals zu. Ihr stockte der Atem. „Beweis es“, flüsterte er, als er den zweiten Knopf löste.
Angsterfüllt blickte sie zu ihm hoch. „Was tun Sie?“ fragte sie mit gepresster Stimme.
„Dich verführen.“ Es klang distanziert, fast klinisch. Seine langen Finger arbeiteten sich langsam an der Vorderseite ihres Nachthemdes hinab, Knopf für Knopf. Derer gab es sehr viele. „Ich hätte gedacht, eine Frau von deiner immensen Erfahrung hätte das längst durchschaut.“
„Aber … warum?“
Sein leises Lachen war noch unerträglicher als seine vormalige Distanziertheit. „Weil ich dich will.“
Benommen realisierte sie, dass sie in einer Minute nackt vor ihm stehen würde. Warum, zum Teufel, war er nicht zehn Jahren früher aufgetaucht – zehn
Kilogramm
früher? Sie wollte sich nicht von einem Mann entblößen lassen, der ihr nicht einmal seinen richtigen Namen verraten hatte, der nichts als Feindseligkeiten von sich gab und unter dessen halb geschlossenen Lidern sie jetzt ein unstillbares Verlangen zu erkennen glaubte, als seine geschickten Hände den letzten Knopf geöffnet
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