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Das Haus der toten Mädchen

Das Haus der toten Mädchen

Titel: Das Haus der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Stuart
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Gehen.
    „Warten Sie!“ rief er ihr nach. „Was haben Sie da drinnen gesucht?“
    Über ihre schmale Schulter schaute sie ihn an. „Dasselbe wie Sie. Ich will beweisen, wer all diese Mädchen tatsächlich ermordet hat.“
    „All diese Mädchen? Es waren nur drei.“ Woher sollte sie von den anderen wissen? Wie konnte sie überhaupt irgendetwas in Erfahrung gebracht haben?
    Grace verzog den Mund zu einem kühlen Lächeln, und er erahnte einen Rest jener lebhaften Frau, die sie einst gewesen war. Mehr als einen Rest.
    „Nehmen Sie nicht alles für bare Münze, Mr. Smith“, sagte sie. Und dann ging sie fort, bevor er noch eine weitere Frage stellen konnte.
    Das Fenster war wirklich klein, aber er zwängte sich hindurch und ließ sich vorsichtig auf den mit Abfällen übersäten Boden gleiten. Es war dunkel; das zerbrochene Fenster ließ nur wenig Licht hinein; aber diesmal hatte er seine Taschenlampe mitgebracht. Er schaltete sie ein und richtete den Strahl in den Flur.
    Schon vor zwanzig Jahren war dieser Flügel eine halbe Ruine gewesen, aber jetzt war er nicht mehr zu retten. Die Zwischenwände waren eingestürzt und gaben den Blick auf die spartanischen Zimmer frei, in denen hie und da ein mit Gipsbrocken und sonstigem Schutt bedecktes Krankenbett stand. Lorelei und er hatten während jenes langen Sommers alle Betten nacheinander durchprobiert. Es kam ihm vor, als wäre das in einem früheren Leben geschehen.
    Er bewegte sich durch den Staub und Schutt und leuchtete jeden Winkel aus, um seinem Gedächtnis möglichst viele Anhaltspunkte zu liefern, doch es weigerte sich störrisch, etwas preiszugeben. Er erinnerte sich an die Räumlichkeiten und an alles Mögliche aus der Zeit vor jener letzten Nacht in Colby. Aber die Nacht der Morde blieb ein Rätsel.
    Sogar die Küche im Tiefgeschoss sagte ihm nichts. Er konnte sich nicht entsinnen, je nach hier unten gegangen zu sein, obwohl er damals vermutlich jeden Quadratmeter des Flügels erforscht hatte. Er war in jener Nacht hier gewesen, das wusste er. Aber nichts, nicht einmal seine Rückkehr an diesen verfluchten Ort, konnte die Vergangenheit wieder zum Leben erwecken.
    Er war so enttäuscht, dass er am liebsten die Faust in eine der maroden Wände geschlagen hätte, aber das hätte den ganzen Trakt womöglich zum Einsturz gebracht, und so frustriert war er nun doch nicht, dass er hier sterben wollte. Er hatte seine Zeit verschwendet. Die Antworten auf seine dringlichen Fragen würde er hier nicht finden, und je schneller er wieder verschwand, desto besser. Vielleicht musste er erst alt und meschugge werden wie Grace, um sich plötzlich an die Geschehnisse jener Nacht zu erinnern. Oder er würde nie dahinterkommen. Damit konnte er leben. Das tat er schließlich schon seit zwanzig Jahren.
    Er kehrte zu dem offenen Fenster zurück und schwang ein Bein über das Fensterbrett. Sein Hemd blieb irgendwo hängen, und er hörte, wie es riss. Er sah hinunter: Ein aus dem Holz ragender Nagel hatte den Ärmel aufgerissen, und auf dem langen Kratzer bildete sich eine Perlenkette aus Blutstropfen.
    Erleichtert dachte er an die Tetanusspritze, die er kürzlich bekommen hatte. Doch dann, als die Blutstropfen auf seinem Arm anschwollen und der Stoff seines Hemdes die rote Flüssigkeit aufsaugte, erstarrte er.
    Überall war Blut gewesen. Auf dem Boden, in ihrem Haar, in ihrer zerfetzten Kleidung. Blut auf ihren Händen und sogar in ihren starren, weit aufgerissenen Augen. Er hatte versucht, die Blutungen zu stoppen, aber es war schon kein Funken Leben mehr in ihr gewesen, und er hatte sich auf den Boden gekniet, ihren Körper an sich gepresst und verzweifelt geheult.
    Nicht hier im Krankenhaus. Sondern im Halbdunkel des Geräteschuppens. Kein Wunder, dass es hier keine Spur von ihrem Blut gab. Er würde es im Schuppen finden.
    Da war noch jemand gewesen und hatte ihn beobachtet. Er hatte es bemerkt, aber er war zu betrunken und bekifft gewesen, um sich später daran zu entsinnen. Er hatte Loreleis schlaffen Körper festgehalten, bis er ohnmächtig geworden war, und als er aufwachte, war er allein gewesen. Er hatte im Gras gelegen, in der Dunkelheit.
    Dann war er in sein Bett getaumelt, in dem Glauben, dass er sich den ganzen Horror im Rausch zusammengeträumt hatte. Selbst das Blut, das er am nächsten Morgen auf seiner Haut entdeckt hatte, hatte die Erinnerungen nicht zurückgebracht.
Nichts
hatte sie zurückgebracht – bis jetzt, als er zuschaute, wie sein Hemd sich mit Blut

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