Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
wissen. In Angst und Ungewissheit zu leben ist unerträglich, obgleich ich dies nun schon seit vier Jahren aushalten muss. Ich schrieb Ihnen ja bereits davon, was ich an jenem Morgen in der Bibliothek gefunden habe. Von den Dingen, auf die ich dort gestoßen bin. Ich bin sicher, dass ich Ihnen davon geschrieben habe, obgleich mein Verstand damals so aufgewühlt war. Es war wie ein schrecklicher Albtraum. Noch Tage später wachte ich auf, war zwei Herzschläge lang glücklich, doch dann kam mir alles wieder zu Bewusstsein, und mir schien, als trübte sich die Sonne. Macht es mich zur Komplizin, dass ich meine Entdeckung verbarg? Ich fürchte, ja, doch hätte gewiss kaum ein Mensch anders gehandelt. Vielleicht ist das auch nicht wahr. Vielleicht bin ich schwach und ängstlich, und es fehlt mir an Moral und Mut. Was sagt das über Sie und Ihr Schweigen? Schreiben Sie mir, ich flehe Sie an. Lassen Sie mich nicht länger unter Vermutungen und Geheimnissen leiden, die mich Tag für Tag verfolgen.
Mit herzlichen Grüßen
H. Canning
Sie saßen in einem Restaurant in einem Dorf namens Watou – eine Weile zu fahren von Poperinge, wo Leah abgestiegen war und Ryan wohnte. Das Restaurant ist die Fahrt wert, hatte er auf ihren fragenden Blick hin gesagt, als sie die Stadt verließen. Und er hatte recht. Das Essen war köstlich, die Atmosphäre angenehm ruhig und vom Geplauder der einheimischen Gäste geprägt, die zum Abendessen kamen. Draußen prasselte der Regen auf die menschenleere Straße herab, sprudelte in den übervollen Rinnsteinen und warf die Straßenbeleuchtung in winzigen Lichtpunkten auf das Fensterglas.
»Da sehnt man sich doch nach dem Sommer, oder?« Leah starrte seufzend hinaus.
»Mir gefällt das, weißt du nicht mehr? Ich mag die düsteren Monate«, entgegnete Ryan und schenkte ihr Rotwein nach.
»Richtig. Das hatte ich vergessen.«
»So schnell vergisst du mich also.« Ryan schüttelte den Kopf. Leah sagte nichts. Sie wussten beide, dass das unmöglich sein würde – vergessen. Sie blickte zu ihm auf. Die Kerze zwischen ihnen auf dem Tisch beleuchtete sein Gesicht. Was in ihr war es nur, das sie so zu ihm hinzog? Etwas Unentrinnbares, wie die Schwerkraft. Es wäre so viel leichter, diesem Etwas einfach nachzugeben – so ähnlich, ermahnte sie sich, wie es leichter wäre, loszulassen und von einer Klippe zu stürzen, als sich wieder auf sicheren Boden hochzuziehen. So viel leichter. Der Wein wärmte ihr Blut und färbte spürbar ihre Wangen. »Du hast einen Schwips«, bemerkte Ryan. Sein Lächeln zeigte sanften Spott, und Vertrautheit und Zärtlichkeit ließen seine Züge weicher erscheinen und die schlimmen Erinnerungen verblassen.
»War das nicht deine Absicht?«, fragte Leah. Ryan schüttelte den Kopf.
»Du wusstest schon immer genau, was du willst. Ich habe nie zu Alkohol gegriffen, um das in meinem Interesse zu verändern.«
»Lügner.« Sie lächelte, und Ryan grinste.
»Es ist wirklich schön, dich zu sehen, Leah. Ich glaube, ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir das zu sagen.« Er streckte die Hand aus, spielte an den heruntergelaufenen Wachstropfen an der Kerze herum und runzelte dabei leicht die Stirn, als sei er in tiefschürfende, beunruhigende Gedanken versunken. Oh, dieses Spielchen hast du immer perfekt beherrscht, dachte Leah. Er hatte es stets verstanden, sie zum ersten Schritt zu verleiten, zu näherem Hinsehen zu verlocken.
»Ich werde nicht mit dir schlafen«, erklärte sie unvermittelt.
Ryan zog die Hand von der Kerze zurück, als hätte er sich verbrannt. »Ich kann mich nicht erinnern, dich darum gebeten zu haben«, entgegnete er scheinbar ungerührt.
Sie unterhielten sich, während ihre Teller abgeräumt wurden, und bestellten Desserts. Doch je länger sie miteinander sprachen, umso offenkundiger wurden all die Dinge, über die sie nicht sprechen konnten, und bald verfielen sie in ein unbehagliches Schweigen.
»Warum er diesen Brief wohl aufgehoben hat? Sie hat ihm anscheinend oft geschrieben, ehe er England verlassen hat. Warum gerade diesen einen? Als Liebesbrief kann man ihn kaum bezeichnen«, bemerkte Leah schließlich. Der Kellner brachte ihre Desserts – Profiteroles in einer Pfütze heißer, glänzender Schokoladensauce. Er stellte die flachen Schalen mit großer Geste vor sie hin und drehte sie dann mit den Fingerspitzen, als sei die exakte Position von äußerster Wichtigkeit. Leah fing seinen Blick auf und lächelte flüchtig.
»Ich glaube, unser garçon
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