Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
suchte sie nach einer Möglichkeit, ungeschehen zu machen, was sie getan hatte, obwohl sie wusste, dass das völlig unmöglich war. Sie schloss die Augen und ließ sich von ihrer Verzweiflung überrollen. Es war ein Gefühl, als würde sie unter der Erde feststecken und langsam ersticken, ohne Ausweg. Ich werde nie wieder frei sein, dachte sie.
Doch dann erschienen die Worte aus den Briefen dieser Canning vor dem rötlich-schwarzen Hintergrund ihrer geschlossenen Lider. Alles ist verdorben. Ich hatte vor, alles zu vernichten … Da bleibt es also, unter den Dielen. … von solchen Schatten erdrückt … Da gab es etwas zu entdecken, eine verborgene Geschichte, irgendeine Wahrheit. Nicht nur die Identität des toten Soldaten, sondern auch die Umstände, die dieser Frau solche Qualen bereitet hatten. Warum der Mann, dem sie schrieb, ihr nie antwortete, und warum er von all ihren Briefen nur diese beiden aufbewahrt hatte, und warum sie glaubte, er könnte eines Tages etwas beweisen, zu seiner Entlastung vorbringen müssen, wie sie sich ausgedrückt hatte.
Wie eine Rettungsleine, etwas, woran sie sich festklammern konnte, fielen die ausgefransten Fäden dieser Geschichte zu ihr herab. Sie konnte sie gerade so erreichen, indem sie sich konzentrierte und ihren ganzen Willen darauf richtete. Als Allererstes musste sie hier weg. Ohne Ryan zu wecken, ohne mit ihm zu sprechen, sich von ihm zu verabschieden – obwohl sein Geruch an ihrem Haar, an den Fingern und an ihrem Mund haftete, wie Spuren einer tückischen Droge, die sie brauchte und die ihr zugleich schadete. Sie stand auf, zog sich leise an, hob die Kopien der Briefe vom Boden auf und steckte sie in ihre Handtasche. Als sie das Zimmer verließ, glaubte sie, aus dem Augenwinkel etwas schimmern zu sehen, einen kurzen Lichtreflex von der dunklen Gestalt inmitten von Kissen und Decken. Als wären Ryans Augen offen gewesen, als sie sich aus dem Zimmer schlich.
1911
Morgens ist das Haus kühl und still, erfüllt von hellem Sonnenlicht. Es glitzert auf den Staubkörnchen, die in der stillen Luft tanzen und dann langsam auf die Möbel herabsinken. Wenn Cat die Kamine und Teppiche säubert, stieben ganze Wolken davon auf und lassen sich anderswo nieder, um gleich darauf wieder weggefegt zu werden, hoch in die Luft und herunter auf den Boden. Cat ist froh, dass Hester nie früh genug auf ist, um zu sehen, wie vergeblich das ist. Menschen bestehen aus Staub. Häuser bestehen daraus. Cat wischt sich immer wieder die Hände an der Schürze ab, weil ihr die Vorstellung nicht gefällt, dass der Staub an ihrer Haut haften bleibt. Sie putzt die unteren Räume und deckt den Frühstückstisch, ehe Hester herunterkommt. Manch mal wird Cat auch nach oben gerufen, um Hester beim Ankleiden zu helfen. Wenn dann der Pfarrer von seinem Morgenspaziergang zurückkommt, frühstückt er mit Hester, während Cat nach oben geht, die Schmutz- und Flickwäsche einsammelt, das Bett macht, Schlaf- und Badezimmer und den oberen Flur putzt. Sie lüftet Gästezimmer, in denen sie bisher keine Gäste gesehen hat, öffnet die Fensterläden von Zimmern, die den ganzen Tag lang niemand betreten wird, und schließt sie wieder, wenn die Sonne untergeht. Unablässig jagt und erschlägt sie Fliegen und wartet darauf, dass diejenigen, die zu hoch und für sie unerreichbar sind, müde werden und sterben.
Die ganze Zeit über dröhnt ihr die Stille in den Ohren. In London war immer das stete Summen und Brummen der Stadt zu hören, selbst in der exklusiven Broughton Street. In jedem Fenster, dessen Läden sie öffnete, wurde sie von den gedämpften Lauten gelebten Lebens begrüßt. Pferdedroschken klapperten vorüber, beschlagene Hufe an den Enden schlanker, sehniger Beine schlugen Funken auf dem Pflaster. Sie hörte die Motorengeräusche von vorbeituckernden Automobilen, Jungen auf Fahrrädern, Lieferkarren, den bedächtigen Schritt eines schweren Zugpferds. Und Fußgänger, Stimmengewirr. Die Dienstboten konnten immer wieder einen Blick auf Passanten erhaschen, waren stets über die neueste Mode informiert. Wenn Cat jetzt die Fensterläden öffnet, begrüßt sie nur endloses Grün – die Weite der Landschaft zu drei Seiten des Hauses wird nicht vom ge ringsten Anzeichen menschlichen Lebens unterbrochen. Der Himmel ist weit und hoch, und zu hören sind fast ausschließlich Vögel. Hin und wieder rollt ein Wagen vorbei, ab und an bellt ein Hund. Es verstört sie, und doch kann sie alldem nicht widerstehen und
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