Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Das Mädchen ruft lange nach Sophie, dann wird es still, und Hester stellt sich vor, dass Cat ein wenig verschnaufen muss.
»Mrs. Canning! Mrs. Canning! Bitte lassen Sie mich raus! Ich kann nicht eingesperrt sein! Ich halte das nicht aus!« Cats heisere Stimme dringt deutlich durch die Decke. Hester wird eiskalt. Sie hält den Atem an und betet darum, nichts mehr hören zu müssen. »Bitte … ich laufe nicht davon! Bestimmt nicht! Bitte lassen Sie mich raus!« Es hört einfach nicht auf. Hester schließt die Augen und birgt den Kopf unter dem Kissen, doch sie kann die Verzweiflung des Mädchens nicht vollständig ausblenden. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sie mit anzuhören, und während die Nacht verstreicht, findet sie darin ein Echo der Gefühle tief in ihrem eigenen Herzen.
2011
Leah stürmte zurück zu ihrem Wagen, stieg ein und knallte die Tür zu. In der plötzlichen Stille atmete sie auf, und der Wind klatschte ein paar feuchte gelbe Blüten von einem Strauch an die Scheibe. Ihr Schal saß zu fest um den Hals, und die Luft im Auto war stickig und abgestanden. In Leah kochte eine zornige Gereiztheit hoch. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy und wählte Marks Nummer.
»Ja?«, bellte er in den Hörer, und in diesem einen Wort lagen wie gewohnt Argwohn und kaum verhohlene Feindseligkeit.
»Ich bin’s«, erwiderte sie ebenso knapp.
»Oh, hallo. Wie bist du vorangekommen?«
»Ich bin jetzt in der Bibliothek – na ja, auf dem Parkplatz, um genau zu sein. Offenbar muss man einen Termin aus machen, um die Mikrofiche-Geräte benutzen zu können. Die Lokalzeitungen von 1911 sind nämlich noch nicht digitalisiert und die Lesegeräte schon für den ganzen Tag reserviert. Der früheste Termin, den ich bekommen konnte, ist morgen. Ist das zu fassen?«
»Immer mit der Ruhe, Leah – das ist doch gar nicht so lange. Du bist hier nicht mehr in London«, sagte Mark, und es klang belustigt.
»Ich weiß. Es ist nur furchtbar frustrierend, wegen so etwas nicht weiterzukommen. Vielleicht sollte ich gleich nach London rauffahren und es im nationalen Pressearchiv versuchen?«
»Warum denn so eilig? Der Soldat ist morgen noch genauso tot wie heute. Bist du immer so ungeduldig?«, fragte er ein wenig zu hastig.
»Ja! Kann sein. Jedenfalls wenn es um eine Story geht.« Sie schwieg einen Moment und fragte dann: »Und wie bist du mit den Schulen vorangekommen?«
»Da haben wir tatsächlich Glück. Ich hatte schon die meisten Schulen in der Gegend durchtelefoniert und rein gar nichts erreicht – einige gibt es überhaupt erst seit den Fünfziger- oder Sechzigerjahren. Aber der Rektor der allerletzten Grundschule auf meiner Liste war wundersamerweise nicht zu beschäftigt, um mit mir zu sprechen, und obendrein ein begeisterter Lokalhistoriker. Ich habe ihm erzählt, was Hester in ihren Briefen geschrieben hat, und er hielt es für ziemlich unwahrscheinlich, dass eine Pfarrersfrau damals in Vollzeit als Lehrerin gearbeitet hätte – das schickte sich wohl grundsätzlich nicht für eine verheiratete Frau. Seiner Meinung nach dürfte sie eher ein paar Stunden in der Woche ehrenamtlich unterrichtet haben – vielleicht in der Sonntagsschule, oder Kochen und so was in der Art. Er hat mir geraten, dass wir uns mal die Bluecoat School näher anschauen.«
»Die Bluecoat School? Wo ist die?«
»In Thatcham. In dem Gebäude ist heute zwar keine Schule mehr, aber es ist noch unter diesem Namen bekannt. Übrigens stehe ich gerade direkt davor«, sagte Mark.
»Du bist da? Ohne mich? Wo genau?«, fragte Leah und ließ den Motor an.
»Jetzt mal hübsch langsam – das Haus läuft uns ja nicht weg. Fahr auf der A4 durch Thatcham durch, dann siehst du mich schon.«
Während Leah fuhr, brach die Sonne immer wieder durch größer werdende Wolkenlücken, und die gleißenden Lichtsplitter blendeten sie schmerzhaft. Ungeduldig wartete sie an roten Ampeln und trommelte mit den Fingern aufs Lenk rad. Sie hatte schon fast das andere Ende des Ortes erreicht, als sie endlich Mark entdeckte, der in seinem Regenmantel mit hochgezogenen Schultern dastand. Er zog eine Hand aus der Tasche und winkte ihr zu, und sie scherte so abrupt zur Seite aus, dass der Fahrer hinter ihr laut hupte. Sie winkte eine vage Entschuldigung, als er an ihr vorbeisauste, und ließ dann das Fenster herunter.
»Beinahe wäre ich an dir vorbeigefahren! Das ist die Hauptstraße – bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«
»Ja, bin ich. Aber du
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