Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
einfach zerfallen, hat man mir erzählt. Wir konnten sie nicht einmal mehr für etwas anderes gebrauchen. Sie waren völlig ruiniert«, erzählte Kevin ihr. Mark hatte den Blick derweil auf den Boden geheftet und folgte stirnrunzelnd einer Fuge mit der Schuhspitze.
»Haben sie irgendetwas darunter gefunden?«, fragte Leah. Kevin sah sie verständnislos an. »Na ja, wissen Sie – in so alten Bauwerken macht man oft … archäologische Entdeckungen, indem man nur etwas so Simples tut wie den Boden abzutragen. Manchmal haben die Handwerker beim Bau etwas zurückgelassen, das einen Einblick in die Zeit der Erbauung ermöglicht … so etwas in der Art …«
»Ja, ich verstehe – abergläubische Opfergaben vielleicht?«, fragte Kevin. »Kinderschuhe findet man recht häufig, nicht?«
»Vermutlich. Also, haben Sie hier etwas gefunden?«
»Ich fürchte, nein. Nun ja, nicht, dass ich gehört hätte. Ich war natürlich nicht jeden Tag anwesend, während das gemacht wurde, aber die Bauarbeiter hätten sicher erwähnt, wenn sie irgendetwas gefunden hätten …« Kevin bemerkte ihre niedergeschlagene Miene und lächelte nervös. »Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie enttäuschen muss.«
»Ach nein … solche Zufallsfunde sind nur mein besonderes Steckenpferd«, entgegnete Leah hölzern.
»Würden Sie gern ein paar Fotos machen? Für Ihr Buch?«, fragte Kevin.
»Das wäre großartig, danke«, sagte Mark.
Bald darauf traten sie wieder hinaus ins kalte Tageslicht. Kevin Knoll schloss die Kirche ab und verabschiedete sich. Leah und Mark gingen langsam zu der Seitenstraße, in der sie ihre Autos abgestellt hatten. Leah hatte das kribbelnde Gefühl gehabt, dass sie endlich vorankam, dass sie der Geschichte hinter den Briefen des toten Soldaten schon fast auf der Spur war, und die Vorstellung, jetzt wieder den Schwung zu verlieren, war beinahe unerträglich. Solange sie den Ball am Rollen halten konnte, hatte sie ein Ziel. Wenn er liegen blieb, wurde all die vage Ungewissheit, der Schwebezustand ihres ganzen Lebens wieder allzu offenkundig. Dann überkam sie ein niederdrückendes Gefühl der Sinnlosigkeit, und die Nadel ihres inneren Kompasses pendelte wie trunken hin und her. Wenn Hester Canning in einen solchen Zustand geraten war – wenn ihr Leben an einem bestimmten Problem hängen geblieben war wie an einem Dorn, von dem sie es nie mehr hatte losreißen können –, dann war es vielleicht Schicksal, dass gerade Leah es für sie lösen und damit zugleich ihr eigenes blockiertes Leben befreien könnte. Und sie wollte Ryan einen vollständigen Bericht übergeben können, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Sie wollte Erfolg haben und dem Toten einen Namen geben.
Als hätte Mark ihre Gedanken gelesen, bemerkte er: »Schade. Ich dachte, wir hätten endlich eine heiße Spur. Hast du eigentlich eine Deadline für diese Nachforschungen?«
»Nicht direkt – je schneller, desto besser. Meine Kontaktperson bei der Kriegsgräberfürsorge ist in etwa zehn Tagen wieder in Großbritannien. Wir haben ausgemacht, dass wir uns dann treffen und ich ihm übergebe, was immer ich bis dahin herausgefunden habe.« Leah hielt den Blick nach vorn gerichtet, während sie sprach, und bemühte sich so sehr darum, nichts preiszugeben, dass sie verlegen wurde und plötzlich das Gefühl hatte, ihre geheimsten Gedanken stünden ihr groß und breit ins Gesicht geschrieben. Zu ihrer Bestürzung spürte sie, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, während Mark sie nachdenklich ansah.
»Deine Kontaktperson?«, wiederholte er und ließ die Frage zwischen ihnen in der Luft hängen.
Leah schniefte. Von der kalten Brise und dem grellen Licht lief ihr die Nase, und ihre Augen tränten. Sie überlegte kurz, das Thema zu wechseln oder auch gar nichts zu sagen. Aber irgendwie erschien ihr beides unpassend. »Mein Ex. Er hat sich vor ein paar Wochen bei mir gemeldet, nachdem ich eine Ewigkeit nichts von ihm gehört hatte. Er arbeitet gerade in Belgien, in der Nähe von Ypres, und da wurde der Leichnam gefunden – der tote Soldat. Als er auf Hesters Briefe gestoßen ist, hat er mich ins Boot geholt, damit ich der Sache nachgehe.«
»Dein Ex. Ein Ex, oder der Ex?«
»Oh, definitiv der Ex. Meine Freundinnen sind stinksauer auf mich, weil ich tatsächlich rübergeflogen bin. Aber es ist die Story, die mich interessiert. Ehrlich. Ich war so blockiert, seit … na ja, seit einer ganzen Weile. Wieder etwas zu haben, woran ich arbeiten kann, ist genau das, was ich
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