Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
doch nur Robin Durrant begegnet ihrem Blick, und er lächelt und dankt ihr mit demonstrativer Gelassenheit. Hester starrt beinahe verzweifelt auf einen Punkt genau in der Mitte des weißen Tischtuchs, und der Pfarrer blickt mit geradezu entrücktem Gleichmut um sich, der völlig fehl am Platze wirkt, als bestünde keinerlei Verbindung zwischen ihm und seiner Umgebung. Als alles abgeräumt ist, raucht Cat draußen ihre Zigarette – dicht an der Mauer unter dem Dachvorsprung, weil die ersten dicken Regentropfen fallen. Als sie in die Küche zurückkehrt, steht Mrs. Bell mit den Händen in den Schürzentaschen und einem Ausdruck auf dem Gesicht vor ihr, den Cat noch nie gesehen hat. Abrupt bleibt sie stehen. Irgendetwas an diesem Gesichtsausdruck sagt ihr, dass sie davonlaufen sollte, doch sie ignoriert die Warnung.
»Was ist?«, fragt sie argwöhnisch. Mrs. Bell keucht, ihre Nasenflügel blähen sich und sind ganz weiß. Sie sieht beinahe aus, als hätte sie Angst.
»Ich soll dich auf dein Zimmer begleiten. Und mich vergewissern, dass du auch reingehst«, sagt sie schließlich abgehackt.
»Aha, Sie sind jetzt also meine Wärterin? Die spielen uns gegeneinander aus.« Mit resigniertem Blick schaut Cat sie an.
»Das gefällt mir vielleicht nicht, aber so lauten meine Anweisungen. Ich soll dafür sorgen, dass du abends ins Bett gehst und nicht in irgendwelche Lasterhöhlen …«
»Die Worte des Herrn Pfarrer?«
»So ist es.«
»Und ich nehme an, es wird niemandem mehr genügen, wenn ich mein Wort darauf gebe?«
»Daran bist du selbst schuld, Cat«, entgegnet Mrs. Bell.
»Also schön. Gehen wir nach oben.«
Cat geht zornig vor der Haushälterin her und wartet schon mit trotzig verschränkten Armen vor ihrem Zimmer, bis Mrs. Bell keuchend die beiden Treppen bewältigt hat.
»Nun, hier bin ich. Wollen Sie mich auch noch zudecken?«, fragt Cat.
»Ich soll dich zu deinem Zimmer begleiten und warten, bis du bettfertig bist.« Cat tritt über die Schwelle, geht zum Bett und setzt sich darauf.
»Reicht das? Oder muss ich mich vor Ihnen ausziehen und unter die Decke schlüpfen?«
»Mir gefällt das auch nicht, Cat. Aber du hast dir das ganz allein zuzuschreiben«, erwidert Mrs. Bell. Sie streckt die Hand aus, ergreift den Türknauf und zieht an der Tür.
»Warten Sie! Ich mache die Tür nie ganz zu … das ertrage ich nicht. Bitte lassen Sie sie einen Spalt offen«, sagt Cat. Mrs. Bell zögert, ihre Miene wirkt noch ernster, und ein bekümmertes Stirnrunzeln gräbt tiefe Furchen zwischen ihre Brauen. Ihre freie Hand nestelt an etwas in ihrer Schürzentasche herum. Dann greift sie wieder nach dem Türknauf, die andere Hand kommt aus der Schürze zum Vorschein, und Cat sieht etwas Metallenes darin schimmern, eine aufblitzende Warnung, auf die sie aber nicht mehr reagieren kann.
»Es tut mir leid, Mädchen«, brummt Mrs. Bell. Und dann ist die Tür ganz zu, und ein unverkennbares Klicken dringt aus dem Schloss.
Cat ist sofort auf den Beinen und springt zur Tür.
»Nein, nein, nein! «, schreit sie und dreht und rüttelt an dem Türknauf, der protestierend quietscht, aber nicht nachgibt. Hinter der Tür entschwinden Mrs. Bells schwere Schritte den Flur entlang, so rasch sie können. Cat krümmt sich unter einem plötzlichen, heftigen Krampf, es dreht ihr den Magen um, und ein dünner Faden aus bitterem Schleim tropft von ihrem Mund auf den Boden. Als der Krampf nachlässt, blickt sie auf, und die Wände rücken immer enger um sie zusammen, ihr Herz fühlt sich an, als würde es jeden Moment platzen, und schwarze Schatten der Panik breiten sich in ihrem Kopf aus. Unter ihren Füßen scheint der Boden zu schwanken und zu wogen wie auf hoher See. Sie reißt die Arme hoch, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und das Summen in ihren Ohren wird so laut, dass sie ihre eigene Stimme nicht hören kann, als sie Sophie anfleht zurückzukommen. Sie wirft sich gegen die Tür, kratzt mit den Fingern am Holz und achtet nicht auf die Splitter, die sich unter ihre Nägel bohren. Sie hämmert mit den Fäusten dagegen, so heftig, dass sie jeden Schlag bis in die Knochen spürt. Aber die Tür gibt nicht nach.
Ein Stockwerk tiefer liegt Hester schlaflos und allein in ihrem Bett. Albert hat sich nach dem Essen in sein Studierzimmer zurückgezogen und noch keine Anstalten gemacht, es wieder zu verlassen. Also liegt Hester da und hört zu, wie Cat schreit, wie sie schluchzt und flucht und bettelt, bis es kaum mehr auszuhalten ist.
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