Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Verlegen griff sie nach ihrem Weinglas.
»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen. Mit wem denn auch? Mit Dad vielleicht?«
»Mit einem guten Freund?«
»Die waren plötzlich verschwunden, fast alle. Die Sache war einfach … zu gewaltig«, antwortete er und schenkte ihnen Wein nach. »Sie sind damit nicht klargekommen.« In der Pause nach diesen Worten tanzten die Kerzenflammen wieder einmal in einem Luftzug, der sich in die Küche schlich, wie zu einem Lied, das nur sie hören konnten.
»Du kannst mir davon erzählen. Wenn du möchtest«, sagte Leah.
»Aber du weißt doch schon alles, oder?«, erwiderte Mark ein wenig schroff.
»Ich weiß, was in den Zeitungen stand. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Ich weiß nicht, wie es wirklich war.«
»Und, willst du das wissen?«
»Wenn du es mir erzählen möchtest«, sagte sie. Mark wandte den Blick ab und starrte auf das schwarze Fenster, in dem matt sein eigenes Spiegelbild stand. Leah sah, dass der kleine Muskel unter seinem Auge zu zucken begann und sein Kiefer sich verkrampfte. Spontan streckte sie die Hand aus und drückte seinen Arm. Der fühlte sich unter zwei Schichten Kleidung hart und fest an, reine Anspannung.
»Du musst natürlich nicht.«
»Ich weiß. Aber noch schlechter kann ich mich gar nicht fühlen, und vielleicht tut es mir sogar gut … Ich weiß nicht, wie viel du aus der Presse mitbekommen hast, also erzähle ich am besten von Anfang an: Mein älterer Bruder James war mein Held, als wir noch Kinder waren. Er war der klassische große Bruder im besten Sinne. Er hat mir beim Bau meiner Modellflugzeuge geholfen, mir gezeigt, wie man einen Kricket-Ball wirft und wie ich mit meinem Luftgewehr tatsächlich etwas treffen konnte. Und wie man Mädchen aufreißt – das allerdings ziemlich schlecht, muss ich sagen. Ich glaube, der Altersunterschied war groß genug, sodass es zwischen uns keine Rivalitäten gab. Wir haben uns selten gestritten. Er war fünf Jahre älter als ich. Jedenfalls hatte ich ihn sehr lieb. Wir standen uns immer sehr nahe, auch als wir erwachsen und längst von zu Hause ausgezogen waren. Ich mochte auch seine Frau Karen sehr – sie haben vor fünfzehn Jahren geheiratet. Davor war James ein richtiger Frauenheld und nicht immer anständig, könnte man wohl sagen. Das war keine böse Absicht. Er schien Frauen einfach magisch anzuziehen, und es fiel ihm schwer, ihnen zu widerstehen. Er hatte eine Freundin nach der anderen, und manchmal überschnitten sich diese Beziehungen auch. Aber Karen war anders. Sie hat ihn von Anfang an durchschaut und ihm klargemacht, dass sie so etwas nicht dulden würde. Sie ist katholisch, deshalb haben sie recht bald geheiratet, und ich sage ganz ehrlich, dass er noch nie so glücklich war wie mit ihr. Beruflich lief es toll – er war Anwalt und hat sehr gut verdient. In der Kanzlei gab es Überlegungen, ihn zum Partner zu machen. Die Kinder entwickelten sich prächtig, alles war in bester Ordnung. Eine Bilderbuchfamilie. Ich war jedes Jahr zu Weihnachten bei ihnen – unsere Eltern auch. James hat es genossen, den Hausherrn zu geben und uns mit seiner Gastfreundschaft zu verwöhnen. Dann wurde er krank. Er hatte Gleichgewichtsstörungen – mal mehr, mal weniger schlimm. Er war launisch und zog sich immer öfter zurück. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmte, denn James war immer ein fröhlicher Mensch gewesen. Warum auch nicht? Er hatte alles, was man sich im Leben wünschen kann.« Mark hielt inne und drehte sein Glas vor sich auf dem Tisch herum, ganz langsam gegen den Uhrzeigersinn. Der Fuß vibrierte auf der Tischplatte und jagte Leah einen Schauer über den Rücken. »Er bekam unerklärliche Schmerzen, steife Gelenke. Es fiel ihm schwer, Sachen festzuhalten. Er wurde immer ungeschickter, stolperte ständig, verschluckte sich dauernd beim Essen und manchmal sogar, wenn er gar nichts aß. Einfach so … an seinem eigenen Speichel. Dann bekam er Sprechstörungen und ist endlich zum Arzt gegangen, nachdem er es so lange wie möglich hinausgezögert hatte – typisch Mann. Ein Mann, der sich noch nie einen einzigen Tag krankgemeldet hatte. Sie haben alle möglichen Untersuchungen gemacht, und wir haben erwartet, dass dabei etwas herauskommen würde wie eine Mittelohrentzündung, Durchblutungsstörungen oder schlimmstenfalls irgendein fieses, hartnäckiges Virus. Aber es war ALS – Amyotrophe Lateralsklerose. Die Diagnose hat ihn umgehauen, uns alle. Lebenserwartung
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