Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
die Scharade nicht auffliegen zu lassen. Mit vor Nervosität trockener Kehle holt Cat Luft, um Robin Durrant auf den Pfarrer aufmerksam zu machen. Der Theosoph kauert auf dem Boden und ist ganz in seine Arbeit vertieft, ohne etwas von dem nahenden Zuschauer zu ahnen. Cat kann Alberts Blick spüren, obwohl er noch zu weit entfernt ist, als dass sie sein Gesicht genau erkennen könnte. Sein Blick ist dennoch greifbar wie eine Berührung, wie ein starker Griff, der sie festhalten und beherrschen will.
Doch dann macht sich ein Gefühl von Gelassenheit in ihr breit, und beinahe so etwas wie ein wenig boshafter Schalk. Soll der Pfarrer sie doch hier überraschen. Was kümmert es sie schon? Sie ist beinahe neugierig darauf, was dann geschehen wird – wie Albert Canning reagiert, und wie der Theosoph diesmal versuchen wird, sich herauszuwinden. Der Hauch eines Lächelns umspielt ihre Lippen, und sie geht los, nicht wild wie beim letzten Mal, sondern ruhig und gemessen, mit langen Schritten. Sie hält die Arme einmal weit ausgebreitet, dann wieder nach hinten gereckt, mit gespreizten Fingern. Sie dreht sich langsam im Kreis, das Gesicht zum Himmel erhoben, gerade so schnell, dass das Kleid durch die Luft wirbelt, sich von ihren Beinen löst und ihrer Bewegung folgt. Und bald ist sie wieder in ihrem Tanz versunken, der diesmal langsam und hypnotisch ist. Ihr Geist wird leer, der Rhythmus erfasst sie ganz, und mit jeder Sekunde erhellt die Sonne den Himmel ein wenig mehr. Sie vergisst den Pfarrer und den Theosophen und ist sich nur noch bewusst, dass sie lebt. Und bald frei sein wird, so bald schon. Freie Lunge, freier Kopf, der freie, resolute Schlag ihres Herzens.
Der Pfarrer erhebt sich aus dem Gras westlich der Weide. Er hat sich langsam an sie herangeschlichen, tief geduckt und verborgen von Gräsern, Fingerhut und Schwertlilien. Jetzt steht er plötzlich unmittelbar vor ihr, sodass sie erschrocken die Arme sinken lässt. Der Theosoph liegt hinter ihr auf dem Boden. Fotografiert er das hier etwa auch?, fragt sie sich. Denn das Gesicht des Pfarrers bietet wahrlich einen bemerkenswerten Anblick – blasse Haut, die hellblauen Augen so weit aufgerissen, als wollten sie gleich aus den Höhlen springen. Sein Unterkiefer hängt schlaff herab, die Zunge liegt an den Schneidezähnen an. Er hat Speichel auf der Unterlippe, kleine Speichelfäden in den Mundwinkeln, und auf seinem Kinn glänzt Schweiß. Cat lächelt, sie kann einfach nicht anders. Sie überlegt, ob sie sich zum Abschluss ihrer Darbietung vor ihm verbeugen soll, doch irgendetwas hält sie zurück. Er erkennt sie, das ist offensichtlich. Und es arbeitet hinter den Muskeln und Falten, die sich langsam in seinem Gesicht verschieben. Leichtes Zucken hier und da, als der letzte klare Gedanke aus seinen Augen entschwindet und nur Leere hinterlässt. Eine Leere, die ihr plötzlich Angst einjagt. Cats Lächeln gefriert, und sie bleibt still stehen. Nur einen Herzschlag lang, oder zwei oder drei. Sie sollte nicht hier stehen bleiben – ihre Muskeln beginnen sich zu spannen. Sie sollte zurückweichen, zu George laufen und die beiden Männer das hier unter sich ausmachen lassen. Sollen sie doch versuchen, ihre Lügen und Überzeugungen und Strategien irgendwie zu ordnen. Im glitzernden, starren Blick aus den leeren Augen des Pfarrers spürt Cat plötzlich den heftigen Drang zu urinieren, und die Luft scheint aus ihrer Lunge zu weichen. Doch es ist zu spät. Der Arm des Pfarrers hebt sich langsam, sein schwarzes, schweres Fernglas zittert in der Hand am Ende dieses Arms. Cat sieht es, hoch über ihrem Kopf – einen seltsamen, unnatürlichen Umriss vor dem fernen Himmel. Dann saust es auf sie herab.
In der Dunkelheit hört Cat Stimmen. Sie wackeln und rauschen und sind so verzerrt, dass sie kein Wort verstehen kann. Sie spürt einen glühenden, blendenden Schmerz im Kopf, und auch als sie denkt, sie hätte die Augen aufgeschlagen, kann sie noch immer nichts erkennen. Ihre Kehle ist mit einer warmen Flüssigkeit angefüllt. Die wenige Luft, die sie einatmen kann, muss daran vorbei, mit einem langsamen Blubbern, das all ihre Kraft aufbraucht. Sie versucht noch einmal, die Augen zu öffnen, etwas zu sehen. Licht explodiert in ihrem Kopf, die Schmerzen sind schier unerträglich. Sie schließt die Augen wieder, ganz fest. Der Boden schaukelt unter ihr, er hebt und senkt sich wie Wasser. Das Meer?, denkt sie, glücklich und beunruhigt zugleich. Sie versteht das alles nicht. Die
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