Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Geschirrtuch neben dem Spülbecken gefunden, ganz voller Blut.« Sophie deutet auf das fleckige Geschirrtuch in einem Eimer Wasser neben der Tür. »Ich habe es sofort eingeweicht, und Cat soll es nachher schrubben, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass die Flecken ganz rausgehen werden, Madam. Es war wirklich viel Blut daran.«
»Oh! Du meine Güte. Ich hoffe doch …« Hester verstummt. Irgendetwas in ihrem Inneren schnürt ihr so schmerzhaft die Brust zusammen, dass sie einen Moment nicht weitersprechen kann. Sie presst die Finger auf ihr Zwerchfell und nimmt sich zusammen. »Sophie«, sagt sie schließlich mit einer Stimme, die ganz seltsam und ein wenig überspannt klingt. »Oben sind noch alle Fensterläden geschlossen. Wo ist denn Cat?«
»Noch geschlossen? Sie wird doch nicht immer noch im Bett liegen – ich habe aufgeschlossen und kräftig an die Tür geklopft, damit sie auch bestimmt wach wird. Das war vor über einer Stunde.« Sophie runzelt die Stirn.
»Aber Sie haben sie nicht gesehen?«
»Nein, aber wo sollte sie sonst sein? Ich habe die Tür abgeschlossen, als wir gestern nach oben gegangen sind, genau so, wie ich es machen soll …«
Sie werden von einem lauten Klopfen an der Haustür unterbrochen. Die beiden Frauen halten inne und lauschen nach Schritten, die zur Tür eilen, um zu öffnen. Es sind keine zu hören. Sie wechseln einen Blick, dann beginnt Sophie, ihre Küchenschürze aufzuknoten.
»Nein, schon gut. Ich gehe selbst, Mrs. Bell. Bitte machen Sie nur weiter«, sagt Hester. Sie geht den Flur entlang, vorbei an den noch immer gegen die helle Morgensonne draußen verschlossenen Räumen. Vor der Tür steht ein Mann in einer feschen Uniform, jung und blond. Sein Schnurrbart ist noch kaum mehr als ein rötlicher Schimmer auf seiner Oberlippe. Hester kennt ihn aus der Kirche. Seine Wangen sind vor Aufregung gerötet.
»Constable Pearce, nicht wahr?«, fragt sie und bemüht sich um ein Lächeln, bringt jedoch nicht mehr als ein leichtes Zittern der Lippen zustande.
»Guten Morgen, Mrs. Canning. Bitte verzeihen Sie die Störung. Ich fürchte, ich habe schlimme Neuigkeiten, sehr schlimme Neuigkeiten. Ist Ihr Mann zu Hause? Ich wäre sehr froh, wenn ich mit ihm sprechen könnte, es ist dringend«, stößt der junge Polizist in einem Schwall hervor.
»Ich weiß … nun, vielleicht ist er in seinem Studierzimmer, aber zu dieser Stunde ist er oft schon unterwegs. Ich müsste erst …« Sie unterbricht sich und verschränkt die Finger so fest vor ihren Röcken, dass die Muskeln verkrampfen. »Was sind das für Neuigkeiten? Bitte sagen Sie es mir.« Constable Pearce tritt von einem Fuß auf den anderen, und sein Blick verrät Unsicherheit.
»Ich würde wirklich lieber erst mit Ihrem Mann sprechen, Mrs. Canning. Was ich zu berichten habe, ist unpassend für …«
»Junger Mann, falls Sie Informationen haben, die irgendein Mitglied meines Haushalts betreffen, dann teilen Sie sie mir bitte auf der Stelle mit!«, fährt Hester ihn an. Ihr Herz rast so schnell, dass es sie schüttelt. Der Polizist errötet noch tiefer, und das Widerstreben steht ihm ins Gesicht geschrieben.
»Es geht um Ihr Dienstmädchen, Mrs. Canning – Catherine Morley. Ich muss Ihnen leider sagen, dass man sie heute Morgen tot aufgefunden hat. Ermordet , fürchte ich«, sagt er und kann die Aufregung nicht ganz aus seiner Stimme heraushalten.
»Was?« , flüstert Hester. Einen Augenblick lang hält die Welt den Atem an. Die Zeit scheint sich zu verlangsamen, die Pause zwischen dem »Tick« und dem »Tock« der Uhr wird furchtbar lang, und alle Luft flieht aus Hesters Lunge und will nicht zurückkehren. Sie blinzelt und sagt: »Nein, da irren Sie sich.« Doch noch ehe sie zu Ende gesprochen hat, dreht sie sich um, geht zur Treppe und steigt die Stufen empor.
»Mrs. Canning?«, ruft Constable Pearce unsicher und bleibt zögerlich an der Schwelle stehen, doch Hester achtet nicht auf ihn. Ihre anfangs noch zögerlichen Schritte werden immer schneller, sie stürmt die Treppe zum Dachboden hinauf und rennt den Flur entlang zu Cats Zimmer. Sie stößt die Tür auf und hat dabei ein Bild von dem Mädchen vor Augen, das am Fensterbrett lehnt und in den Sonnenschein hinausschaut. Sie kann Cat so deutlich sehen – das kurze, dunkle Haar, das in ihrem zarten Nacken ein V bildet –, dass sie tatsächlich schockiert ist, als sie Cat nicht vorfindet. Das Bett ist ordentlich gemacht, und von Cats Habseligkeiten ist nichts mehr da.
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