Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
zu machen. Dir jedenfalls nicht. Du hast mich die ganze Zeit über, die wir zusammen waren, mit deiner Stiefschwester betrogen, und dann hast du mich noch dazu genötigt, das Ganze ge heim zu halten. Deine ganze Familie zu belügen – deine Eltern, die ich immer sehr gemocht und geschätzt habe, und die es ganz gewiss nicht verdienen, einen Sohn wie dich zu haben. Was bist du eigentlich für ein Arschloch, Ryan?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Hinter ihnen im Flur nahm sie eine Bewegung wahr, und das schockierte Schweigen eines Menschen, der etwas gehört hat, das er kaum fassen kann.
»Leah, nicht so laut, verdammt noch mal!«, fauchte Ryan wütend.
»Zu spät, wie’s aussieht«, entgegnete sie kühl. »Wiedersehen, Ryan. Erwarte nicht, je wieder von mir zu hören, und versuch ja nie – niemals – wieder, Kontakt zu mir aufzunehmen.« Sie kehrte ihm und seiner ungläubigen Miene den Rücken und ging die Treppe hinunter zum Tor. Ein paar Schritte davor blieb sie stehen und drehte sich um. »Der Soldat heißt Robin Durrant. Er war ein Sträfling. Anhand dieser Informationen kannst du gerne versuchen, noch lebende Verwandte zu ermitteln, aber ich bezweifle, dass es welche gibt. Und ansonsten wirst du wohl warten müssen, bis mein Buch erscheint!«, rief sie.
Ihr Gang fühlte sich federnd an, ihre Beine streckten sich zu langen, zielstrebigen Schritten, als sie davonging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie spürte eine verzweifelte Ungeduld, doch es war nicht nur wegen Ryan, von dem sie nur schnell fortkommen wollte. Nein, da war jemand anderes, zu dem sie so rasch wie möglich zurückkehren wollte. Sie hoffte, dass es noch nicht zu spät war, holte ihr Handy aus der Handtasche und tippte mit fahrigen Fingern seine Nummer ein. Sie drückte eine falsche Taste, musste von vorn anfangen und fluchte leise. Eine Hupe ertönte auf der gegenüberliegenden Straßenseite und ließ sie zusammenschrecken. Sie blickte auf und sah einen vertrauten, schlammbespritzten Renault, der zwanzig Meter von der Einfahrt entfernt parkte. Mark winkte ihr vom Fahrersitz aus zu, und sein Blick war besorgt, aber er grinste. Ein wunderbares Gefühl der Erleichterung stieg in Leah auf und zeigte sich als ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie winkte zurück. Ihre Schritte waren federleicht vor Glück, als sie die Straße überquerte und zu ihm lief.
1911
Das Wetter schlägt um, der Herbst stiehlt sich mit spürbar kühlerer Morgenluft herein und überzieht die Blätter der Bäume mit einem Hauch von Bronze, Gold und Braun. Tess spaziert den Treidelpfad entlang nach Thatcham, um zwei Briefe von Mrs. Canning aufzugeben. Sie sagt sich die Wegbeschreibung immer wieder vor, weil sie fürchtet, sich zu verlaufen oder auf dem Rückweg das Pfarrhaus nicht wiederzufinden. Sie hat ihre neue Stellung erst vor zwei Wochen angetreten, und alles ist ihr noch fremd: von der weiten, offenen Landschaft um sie herum über die Stille und Ruhe bis hin zu den guten warmen Mahlzeiten nach den vielen Monaten voll Grausamkeit und Entbehrungen in Holloway und Frosham House. Sie kann nicht anders, als alles zu essen, was man ihr vorsetzt, und die Kuhle zwischen ihren Hüftknochen ist nicht mehr ganz so tief, Gesicht und Arme werden runder. Sophie Bell scheint sich darüber zu freuen. Die Köchin redet nicht viel, und ihr Mondgesicht wirkt von Kummer verhärmt, aber sie lächelt Tess an, tätschelt ihr hin und wieder die Schulter und behandelt sie gut. Hauptsächlich gilt ihre Aufmerksamkeit aber einer kleinen schwarz-weißen Katze, einer mageren Streunerin, die ein paar Wochen zuvor an der Küchentür erschien. Sophie hat sich ihrer angenommen und kümmert sich mit beinahe abergläubischer Hingabe um das Tier. Sie gibt ihm Sahne aus einer Untertasse zu trinken und hebt ihm die Fleischabschnitte auf, wenn sie Nierenpastete macht. Sophie Bell hat dem Kätzchen keinen Namen gegeben, sie ruft es einfach »Katze« – Cat.
Hester Canning scheint eine seltsame Frau zu sein, furchtbar nervös und unruhig, aber sie bemüht sich sichtlich, Tess das Gefühl zu geben, dass sie an diesem Ort sicher und willkommen ist. Sie ist sanft und freundlich, ganz anders als der Gentleman oder Mrs. Heddingly. Und als die vielen verschiedenen Wärterinnen und Aufseher, unter denen Tess in letzter Zeit gelitten hat. Hester Canning spricht und bewegt sich, als hätte sie Angst, etwas zu wecken, das unsichtbar in einer Ecke des Raums schläft. Oft hält sie eine Hand
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