Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Paradies zu Füßen eines schillernd weißen schneebedeckten Berges hatte sie viele Mönche und Nonnen kennengelernt, die auf sie friedvoll und inspirierend gewirkt hatten. Die Reise war eine der schönsten ihrer Karriere gewesen, so fern der modernen Zivilisation und ihrer Erfindungen, dass sie fast selbst an den Mythos zu glauben begann. In der dünnen, klaren Gebirgsluft, die ihren Lungen zu schaffen machte, in einer Landschaft, die seit Hunderttausenden von Jahren unverändert geblieben war, hatte sich Jac ernsthaft gefragt, ob Shangrila existierte. Und ob sie je von dort zurückkehren würde, wenn sie es fand.
In gewisser Weise hatten die Katakomben, durch die sie jetzt wanderte, Ähnlichkeit mit jenen heiligen Bergen. Dieselbe Stille und Einsamkeit. Das Abgeschnittensein von jeder Form von Kommunikation, außer der mit den Reisegefährten. Und auch hier war Jac wieder einem Mythos auf der Spur. Doch diesmal war es der ihres Bruders. Die Suche war nicht weniger beschwerlich, doch sie kam ihr viel aussichtsloser vor.
Wieder bogen sie in einen neuen Tunnel ein. Hier waren die Wände zu beiden Seiten von einem dünnen Film aus Wasser überzogen. Die Stirnlampen zeichneten silbrige Lichtreflexe auf die rauen Steine.
»Darf ich Sie etwas fragen, Ani?«, fragte Jac.
»Natürlich.«
»Denken Sie, mein Bruder hat recht? Denken Sie, dass der Dalai Lama mit seinem Geschenk etwas anfangen kann?«
»Ich bin nur die Überbringerin. Es steht mir nicht zu, darüberzu urteilen.« Sie sprach Französisch, und Jac war sich sicher, dass es ihre Muttersprache war. Die Haarstoppel auf ihrem geschorenen Schädel waren schwarz, ihre Gesichtszüge asiatisch – eher chinesisch als tibetisch, fand Jac. »Zweifeln Sie an der Entscheidung Ihres Bruders?«, fragte die Nonne.
»Nach allem, was ich über die Probleme Ihres Volkes gehört habe, kommt es mir vor, als würde man dem Papst einen Splitter des Kreuzes bringen wollen.«
»Vielleicht ist es so.« Die Nonne ging hinter ihr, so dass Jac ihr Gesicht nicht sehen konnte, doch es klang, als hätte sie gelächelt. »Aber die Rettung kommt nicht immer aus der Richtung, in der man sie vermutet. Und die Macht geht unerwartete Wege.«
Der Tunnel endete mit einem schlichten vier Meter hohen Torbogen. Dahinter war eine hohe Kammer mit einem steinernen Altar in der Mitte. Laut ihrer Karte war dies der Raum, in dem Robbie sie erwarten wollte, doch er war nirgends zu sehen.
»Haben wir etwas falsch gemacht? Sind wir irgendwo verkehrt abgebogen?«, fragte Jac Griffin.
»Nein, wir sind hier richtig. Sieh mal.« Er zeigte auf ein Kreuz aus Schädeln über dem Torbogen und eine Plakette darunter, auf der stand: »
Croyez que chaque jour est pour vous le dernier. Horace.
«
»Robbie hat erwähnt, dass es in dem Raum ein Horaz-Zitat gibt. Was bedeutet es?«, fragte Griffin.
»Nimm jeden Tag, als sei es dein letzter«, übersetzte Jac die Worte des römischen Dichters.
»Wie wahr«, murmelte die Nonne.
»Glaubst du, ihm ist etwas passiert?«, fragte Jac Griffin.
»Nein. Wahrscheinlich ist er anderen Höhlenforschern über den Weg gelaufen und wollte nichts riskieren.«
»Und was machen wir jetzt?«
Diesmal antwortete nicht Griffin, sondern die Nonne. »Wir warten.« Sie klang schicksalsergeben, wie jemand, der das Warten gewohnt ist.
Als Robbie eine halbe Stunde darauf noch immer nicht gekommen war, schlug Jac vor, nach ihm zu suchen.
»Das nützt nichts. Wir haben keine Ahnung, wo er sein könnte«, sagte Griffin.
»Immerhin wissen wir, dass er hier unten ist«, sagte Jac.
»Hier gibt es Tunnel von einer Länge von hunderten Kilometern, hunderte Höhlen und tausende Durchgänge. Wir könnten in ein paar Metern Entfernung aneinander vorbeilaufen, ohne es zu merken.«
»Und wenn er sich verletzt hat? Oder wenn irgendjemand, der hinter ihm her ist, ihn hier gefunden hat?«
»Wie denn? Außer uns weiß niemand, dass er hier ist«, sagte Griffin.
Jac wandte sich der Nonne zu. »Wem haben Sie erzählt, dass Sie hierher gehen würden?«
»Ich musste es meinem Vorgesetzten sagen, der das Treffen arrangieren wird, dem obersten Lama des Buddhistischen Zentrums Paris. Aber wir sind alle bestrebt, Ihrem Bruder zu helfen, Mademoiselle.«
»Außerdem habe ich Ani nur den Treffpunkt genannt, Jac, und nicht, wohin wir gehen würden.«
»Aber du hast ihr gesagt, dass sie Gummistiefel und eine warme Jacke mitbringen soll, und das an einem sonnigen Tag mitten im Frühling.«
»Selbst wenn sich
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