Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
enthalten hätten, erzählten Mosaike aus Knochenfragmenten die Geschichten der Heiligen. Jemand hatte sogar die Fensterrose von Notre-Dame aus Knochen nachgeahmt.
Doch so wunderschön der Ort auch war – er stank. Der Verwesungsgeruch war überwältigend. Nirgendwo sonst im Stollensystem hatte Jac etwas derart Abstoßendes gerochen. Doch obwohl sie den Geruch deutlich erkannte, verstand sie nicht, woher er rührte – es konnte kein faulendes Fleisch sein. Die Knochen waren mehrere Jahrhunderte alt.
Jac richtete den Lichtstrahl ihrer Lampe auf eine der Wände und trat näher heran. Jemand hatte in eine breite Felsplatte eingraviert, von welchem Friedhof die Toten in diesem Raum stammten: Saints Innocents. Darunter waren in sechs Spalten hunderte Namen aufgelistet. Als Jac sie durchlas, spürte sie, schon bevor sie es sah, wen sie dort finden würde. Dennoch überraschte es sie, den Namen vor sich zu sehen.
L’Étoile.
Jac rechnete. Ihr Großvater war 1915 geboren. Sein Vater war damals über zwanzig gewesen, musste also in den späten 1880er Jahren geboren sein. Und Jacs Ururgroßvater vielleicht 1860. Sein Vater musste wiederum in den 1830ern oder 1840ern zur Welt gekommen sein, und die Generation vor ihm, die sechste, in den 1820ern. Der L’Étoile, der hier begraben lag, war also die siebte oder achte Generation vor ihrer eigenen.
Jac berührte die tief eingekerbten Lettern.
Der Raum verschwamm vor ihren Augen. Sie roch Weihrauch und Myrrhe. Als sie tiefer einatmete, ahnte sie einen Hauch von Lotus und Mandel. Und noch etwas, etwas Flüchtiges, schwer Fassbares: den Duft aus Robbies Tonscherben. Jac war sich sicher, sie erkannte ihn genau.
Vor ihren Augen tauchten geisterhafte Schemen auf. Marie-Geneviève als junges Mädchen. Und Giles. Die beiden sprachen flüsternd miteinander. Er sagte, er hätte ihr zum Abschied ein Parfüm mitgebracht.
Jac wollte daran riechen, doch stattdessen roch sie die Loire, wo die Jakobiner johlend Marie-Genevièves Tod erwarteten.
»Jac? Wir müssen weiter.« Die Bilder lösten sich auf.
Jac drehte sich zu Griffin um. Sie wollte es ihm erzählen. Doch dann fiel ihr die Nonne wieder ein. Vor einer Fremden konnte sie unmöglich darüber reden.
Fünf Minuten später fanden sie Robbie dort, wo sie ihn am Vormittag getroffen hatten.
»Endlich«, rief Jac. Sie fiel ihrem Bruder um den Hals und drückte ihn lange fest an sich. Die vergangenen Stunden hatten ihr sehr zugesetzt.
»Warum kommt ihr erst jetzt?«, fragte er scherzhaft.
»Hattest du Schwierigkeiten?«, fragte Griffin. »Oder warum hast du hier gewartet?«
Jac bemerkte, dass sich die Nonne zögernd zurückhielt und im Dunkeln stehen blieb.
»Ich wurde von ein paar ziemlich gesprächigen Kataphilen aufgehalten. Tut mir leid, dass ich euch habe warten lassen.«
Der Raum, in dem sie sich befanden, war rund, und der Boden schien zu einer Wand hin steil abzufallen. Jac konnte im Licht der Stirnlampen nicht erkennen, wie tief die Spalte hinabging. Die Luft, die von dort herüberwehte, war feucht. Aus der Dunkelheit war das Geräusch tropfenden Wassers zu hören.
»Freunde von dir?«, fragte Jac.
»Künstler, die hier einmal im Monat herkommen und die Wände bemalen«, erklärte Robbie. »Sie wollten mir unbedingt ihre neuesten Werke zeigen und haben mich ewig nicht gehen lassen. Aber seid ihr allein gekommen? Wolltet ihr nicht …«
Griffin wies auf den dunklen Eingang.
»Doch, ja. Robbie, das ist Ani Lodro. Ani, das ist Robbie L’Étoile.«
Robbie trat auf die Nonne zu, die unbeweglich stehen blieb. Doch ihre Augen wirkten plötzlich viel strahlender und weicher als zuvor. Ani bewegte sich unwillkürlich, als hätte sie sich gerade noch zurückgehalten, die Arme nach ihm auszustrecken.
Robbie starrte die Frau vor ihm ungläubig an. »Bist du es wirklich?« Sein Tonfall war sanft und vertraulich.
Kannten sie sich etwa?
»Was ist mit deinem Haar passiert?« Robbie hob die Hand, als wollte er die verschwundene üppige Pracht berühren, und strich Ani dann über den geschorenen Kopf. Eine ungeheuer intime Geste.
»Ich bin jetzt eine Nonne.« Ani sprach so leise, dass Jac sie fast nicht verstand.
»Was ist passiert? Ich habe auf deinen Anruf gewartet und mich dann bei dem Retreat gemeldet. Aber sie wollten mir nichts sagen.«
Ani senkte schweigend den Kopf, um seinem Blick auszuweichen.
»Was war los?«, fragte er noch einmal. »Ich habe überall nach dir gesucht. Monatelang.«
»Es tut mir leid … meine
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