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Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melisse J. Rose
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nicht, er konnte es nicht.
    Ausgerechnet in diesem schrecklichen Augenblick – mit Anis Arm um sich, der sich ihr in die Seite bohrte, mit einer Pistole an der Schläfe, mit hundert Sorgen und Ängsten – musste Jac daran denken, was für ein Wunder der unerschütterliche Glaube ihres Bruders war. Wie mochte es sich anfühlen, so fest an etwas zu glauben, etwas so wichtig zu nehmen, dass es einem selbst angesichts all dieser Gefahren schwerfiel, davon zu lassen? Merkwürdig – das Einzige, an dem Jac immer festhielt, war ihr Unglaube. Ihr Entschluss, Geschichten stets nur als das zu nehmen, was sie waren, sie zu analysieren, bis nur noch eine Metapher übrig blieb. Jac war Realistin: Sie wusste, dass der Mensch sich den Glauben geschaffen hatte, um Licht ins ewige Dunkel zu bringen. Um im Abgrund des Nichts Fuß fassen zu können.
    Jetzt war der Beutel in Reichweite. Jac spürte, wie Ani zögerte. Fragte sie sich, wie sie an ihn herankommen sollte?
    Griffin durchbohrte Jac von der anderen Seite der Höhle aus mit Blicken. Was zur Hölle wollte er bloß von ihr? Er legte den Kopf ein wenig schief. Was sollte das heißen?
    Jac würde nur eine Chance haben, um …
    Ani ließ locker, und Jac riss sich los. Blitzschnell zog sie sich rückwärts zurück.
    Ani bückte sich. Griffin ebenfalls. Er riss den Arm hoch und schleuderte etwas ins Dunkle, das Jac nicht erkennen konnte. Dann hallte ein lautes Krachen von den Wänden wider, und Ani stürzte zu Boden. Ihre Schusswaffe schlitterte davon.
    Griffins Wurfgeschoss, ein hohläugiger, gelblicher Schädel, rollte Jac vor die Füße.
    Schon war Griffin über Ani, nahm ihre Handgelenkte und drehte ihr die Arme nach hinten, sein Knie auf ihrem Rücken. Die Nonne wehrte sich heftig, doch Griffin war stärker. Sie versuchte, ihn abzuschütteln. Er stieß sie wieder zu Boden und bekam sie mit einem Klammergriff zu fassen.
    »Jac, nimm die Waffe«, rief Griffin.
    Jac tastete danach.
    »Robbie, greif dir …« Doch er musste den Satz nicht zu Ende sagen. Robbie hatte den Beutel mit den Scherben schon an sich gerissen.
    Ani gab nicht auf, und Griffin erhöhte den Druck auf ihre Arme, um sie zu bändigen. Sie wand sich und versuchte wieder, ihn abzuschütteln, nach ihm zu treten. Griffin packte ihre Arme fester. Ani schrie auf. Schweißperlen glänzten im Lichtschein von Griffins Lampe auf ihrer Stirn und ihrem Gesicht. Er musste sie verletzt haben; vielleicht war eine Schulter ausgerenkt.
    »Jac, durchsuch ihre Kutte. Sie hat gesagt, sie hätte ein Seil dabei.«
    »Nicht nötig«, dröhnte plötzlich eine zornige Stimme hinter ihnen. »Sie hat vor allem mich mitgebracht. Also lasst sie los. Tretet zurück.«

Achtundvierzig
     
     
    17:55 UHR
     
    Die meisten Kunststudenten und ihre Begleiter nutzten die erste Zeit nach dem Flug, um im Hotel ihre Sachen auszupacken und sich auszuruhen. In einer Stunde würde ein Bus sie abholen, um sie zu einem Empfang mit chinesischen und französischen Würdenträgern ins Musée de l’Orangerie im Jardin des Tuileries zu bringen.
    Xie wusste, dass er sich in dem winzigen Hotelzimmer, das er wieder mit Ru Shan teilte, nicht würde entspannen können. Also schlug er Lan und Professor Wu vor, die Koffer später auszupacken und sich ein wenig die Stadt anzusehen. Er wollte von dem kleinen Hotel auf der Île Saint-Louis zu Fuß zum Museum gehen. Der Professor, der selbst so viel wie möglich von Paris sehen wollte, war gern bereit, die Aufsicht zu führen.
    Vor dem Hotel blieben die drei kurz stehen, um sich zu orientieren. Zu beiden Seiten war die Straße von kleinen Läden mit liebevoll eingerichteten Schaufenstern gesäumt.
    »Es ist alles so wunderschön«, flüsterte Lan, als sie an einem Blumenladen vorübergingen. Die überquellende Auslage voller Rosen, Mohn und Pfingstrosen reichte bis auf den Gehweg hinaus. Feuriges Rot, Orange und Rosa in allen Schattierungen wetteiferten miteinander und ergänzten sich zugleich.
    Xie war zu nervös, um den Anblick zu genießen. Er musste sich anstrengen, um überhaupt zu verstehen, was Lan zu ihm sagte.
    »Wo man auch hinschaut – es gibt überall so viel zu sehen.« Lan zeigte auf das Schaufenster eines Süßwarenladens. Die Inhaber hatten gelbe Keksschachteln zu einem kleinen Eiffelturm aufgestapelt.
    Xie hatte sich schon bei der Landung vollkommen ausgelaugt gefühlt. Die Sorge, wie er mit dem verbotenen Telefon durch die Sicherheitskontrolle kommen sollte, hatte ihn viel Kraft gekostet –

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