Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
unnötigerweise, denn es hatte keinerlei Schwierigkeiten gegeben. Das Handy war unentdeckt in seiner Tasche geblieben, und Xie war wohlbehalten in Paris gelandet.
Lan schlenderte auf der Kaimauer voraus, blieb stehen, um einem Touristendampfer nachzusehen, und führte die anderen über eine kleine Brücke auf die Île de la Cité hinüber.
»Sieh mal, wie der Fluss glitzert. Wie die Wolken vorüberziehen. Wie bei Monet«, sagte Lan. »Oder bei Pissarro. Oder Sisley.«
Xie sah nur die Schatten der Bäume, wo Menschen, deren Gesichter er nicht erkennen konnte, ihm aufzulauern schienen.
Paris war eine lebende Leinwand, und der Künstler in ihm wollte die vielen Eindrücke genießen, die auf ihn einströmten. Doch Xie machte sich zu viele Sorgen um das, was kommen würde, was ihm unklar war. Wie würde die Begegnung ablaufen? Was sollte er tun?
Er wusste selbst, wie unklug das war. Seine Emotionen würden ihn nur schwächen, würden eine Aura um ihn schaffen, die negative Ereignisse auf sich zog. Solange er diesen Spaziergang machte, sollte er nicht an die Zukunft denken. Er sollte im Hier und Jetzt leben, in Paris.
Als er noch im Kloster lebte, hatten ihm die Mönche nebenden Fähigkeiten der Tiefenmeditation einen Satz mit auf den Weg gegeben, einen kleinen Rätselspruch:
Der Nicht-Geist nicht-denkt Nicht-Gedanken über Nicht-Dinge.
Auf dem Weg zur Notre-Dame wiederholte Xie diesen Satz im Geiste und spürte, wie er allmählich seine Energie zurückgewann. Die majestätische Kathedrale vor ihnen war ein Ehrfurcht gebietendes, Stein gewordenes Gebet, versprach Beistand und Schutz. Hunderte Menschen umschwirrten das Gebäude. Jugendliche rauchten, fuhren Skateboard, tippten auf ihren Handys und genossen ihre Freiheit.
Gerade als die drei vorübergingen, begannen die Glocken zu läuten. Ein machtvolles, dröhnendes Geläut, das Xies ganzen Körper durchdrang.
Xie hielt inne. Drehte sich langsam einmal um sich selbst. Betrachtete die Dächer und Giebel, die Brücken, den Fluss. »Professor«, sagte er.
Der ehrwürdige Kalligraph wandte sich ihm zu.
»Ich danke Ihnen für all das.«
»Du hast es dir verdient.« Wu senkte leicht den Kopf, und Xie sah, wie ein Lächeln um seine Lippen spielte.
Wenn Xie versagte, war Professor Wu in größter Gefahr. Dieser große Künstler riskierte sein Leben, um seinem jungen Schützling zu helfen.
Lan hatte bemerkt, was zwischen den beiden vorging, und nahm Xie einen Moment lang schüchtern bei der Hand. Auch sie lächelte ihr stilles Lächeln.
»Kannst du dir vorstellen, wie es wäre, als Künstler hier zu leben?«, fragte sie.
Xie schüttelte den Kopf.
»Wie es wäre, nicht wieder zurückzugehen? Einfach wegzulaufen, jetzt gleich, in Frankreich zu bleiben und zu malen?«
»Das sind gefährliche Gedanken, mein Kind«, sagte Professor Wu.
Bevor Xie sich ihm anschließen konnte, erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.
Nicht weit entfernt, neben einer Gruppe Jugendlicher, entdeckte Xie Ru Shan. Es konnte nur einen Grund dafür geben, dass Ru dort allein abseits stand. Er war ihnen gefolgt.
Neunundvierzig
18:08 UHR
Der Eindringling trug eine Schutzbrille und einen Helm mit einer so hellen Stirnlampe, dass Jac einen Moment lang geblendet war.
Als sie einen Blick auf sein Gesicht erhaschen konnte, sah sie, dass es dreckverschmiert war, ob zur Tarnung oder wegen des beschwerlichen Wegs hierher, und seine Züge waren kaum zu erkennen. Aber er wirkte asiatisch, fand Jac. Wie Ani.
Niemand regte sich.
Griffin hielt Ani noch immer fest. Ihr war anzusehen, dass sie starke Schmerzen haben musste, doch sie gab keinen Ton von sich. Robbie hatte schützend den Arm um Jac gelegt.
Der Eindringling verharrte am Eingang der Kammer.
»Loslassen, habe ich gesagt«, dröhnte er.
Griffin blieb, wo er war.
»Ich habe eine Waffe.«
»Ich weiß, aber wir auch«, sagte Griffin. »Und wenn einer von uns schießt, lösen wir einen Einsturz aus. Das hier sind alles brüchige alte Stollen. Ein lautes Geräusch, und sie brechen in sich zusammen.«
»Das ist ein Bluff.«
»Probieren Sie’s«, sagte Griffin.
Jac lief ein Schweißtropfen den Rücken hinab.
Der Mann kam auf sie und Robbie zu. Er ignorierte Jac und wandte sich an ihren Bruder. »Ich habe mich schon darauf gefreut, dir persönlich zu begegnen«, sagte der Mann. Er spuckte aus. Ein dicker schmieriger Klecks landete auf Robbies Wange. »Als kleinen Gruß von …« Er zögerte. »Fauche.« Dann hieb er Robbie
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