Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
immer behauptet, in Jac erreiche eine jahrhundertealte Familientradition ihren Höhepunkt – sie allein, nicht ihr Vater oder ihr Bruder, sei dazu vorherbestimmt, eine der ganz Großen ihrer Zunft zu werden. Robbie glaubte ebenfalls daran und hielt ihr manchmal vor, dass sie nicht das tat, was ihr in die Wiege gelegt worden war. Er konnte nicht begreifen, warum sie ihr künstlerisches Talent nicht nutzte.
»Mein Bruder macht sich falsche Vorstellungen von meinen Fähigkeiten.«
»Er schien sich sehr sicher zu sein«, sagte Malachai und fügte wie nebenbei hinzu: »Es ist schön, dass ihr euch immer noch so nahesteht. Das tut ihr doch, oder?«
Jac glaubte eine Spur von Kummer in seiner Stimme zu hören. Vielleicht projizierte sie auch nur ihren eigenen Schmerz auf ihn, weil Robbie und sie sich seit Monaten stritten und sie ihre unbeschwerte Nähe von früher vermisste. Jac litt darunter, ihn enttäuscht zu haben. Sie hatte keine Möglichkeit gefunden, die Krise des Familienunternehmens zu lösen, ohne es unwiderruflich zu verstümmeln.
Malachai sah sie erwartungsvoll an.
»Ja, wir stehen einander nah.«
In Malachais sonst so undurchdringlichen braunen Augen spiegelte sich tiefe Trauer. Was berührte ihn an diesem Gespräch so sehr, dass er sich derart gehenließ? Von dieser Seite hatte sie ihn noch nie kennengelernt. Nie hatte er sich irgendwelchen Kummer anmerken lassen. Was war es nur? Jac wusste, dass er weder Frau noch Kinder hatte, aber hatte er Geschwister? Hatte er sich mit einem Bruder oder einer Schwester zerstritten? Oder war gar eins seiner Geschwister krank geworden oder gestorben?
Dafür, dass er in ihrem Leben eine so entscheidende Rolle spielte, ließ Malachai sie erstaunlich wenig über sein Privatleben wissen. Er hatte sich immer für ihre berufliche Entwicklung interessiert, fast wie ein stolzer Vater. Doch von sich selbst erzählte er, ebenfalls wie ein Vater, kaum mehr als die wichtigsten Eckdaten.
Malachai griff in die Tasche seines Jacketts, zog ein Kartendeck heraus und begann zu mischen. Jac ärgerte das vertraute Geräusch.
»Ich bin nicht nervös«, sagte sie.
Sie wusste noch von früher, dass er in seiner Arbeit mit jüngeren Patienten gern Kartentricks einsetzte, um sie zu beruhigen.
Er lachte. »Natürlich nicht, Jac. Ist nur eine Angewohnheit.« Er hielt ihr die Karten hin. »Aber bitte, mir zuliebe.«
Jac zog eine heraus und bemerkte das komplexe farbige Fleur-de-Lys-Dekor und die Goldränder des Spiels. Malachai besaß eine eindrucksvolle Sammlung historischer Kartenspiele. Alles Originale.
»Die sind sehr schön.«
»Vom Hof Marie Antoinettes. Ich glaube, die schönsten Spielkarten in meiner Sammlung sind alle aus Frankreich.«
Jac fröstelte. Der Impuls kam tief aus ihrem Inneren, durchfuhr sie bis in die Fingerspitzen und stellte ihr die Nackenhaare auf. Suchend blickte sie sich nach einer Ursache für das plötzliche Kältegefühl um. Die Fenster zu beiden Seiten des Schreibtischs standen offen.
»Ist dir kalt?«, fragte Malachai. Ein rätselhaftes Lächeln umspielte seine Lippen, als wüsste er etwas über sie, das er nicht preisgeben wollte.
Sie schüttelte den Kopf. »Muss ein Luftzug gewesen sein.«
»Natürlich«, sagte er, klang jedoch nicht überzeugt. »Soll ich die Fenster schließen?«
»Nein, ist schon gut.« Sie blickte in den kleinen Hofgarten hinaus. Die blühenden Kirsch- und Holzapfelbäume und der Hartriegel verbreiteten einen angenehmen Duft. Im Haus ihrer Familie in Paris gab es zwischen Werkstatt und Wohntrakt einen weit größeren Hof, der zugleich als Abenteuerspielplatz für sie und ihren Bruder, als Kräutergarten für die Köchin und als Laboratorium für jede neue Generation von Parfümeuren fungierte, die dort eigene exotische Zutaten anpflanzten.
»Willst du immer noch nicht wissen, ob du Erinnerungen anfrühere Leben hast?«, fragte Malachai und beugte sich bei dieser persönlicheren Frage ein wenig vor.
»Nein, immer noch nicht«, antwortete sie, ohne zu zögern und fast ein wenig abweisend. Bei diesem speziellen Thema hatte Malachai nicht zum ersten Mal eine Grenze überschritten. Sie hoffte, dass er sie nicht weiter bedrängen würde. Jac hatte an dieser Diskussion keinerlei Interesse. Sie führte sie oft genug mit Robbie, dem eifrigen Adepten. Die ganze Debatte ging sie überhaupt nichts an.
»Wenn ich also eine dieser Erinnerungshilfen finden würde, hättest du kein Interesse, sie auszuprobieren?«
»Ich respektiere dich und
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