Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
zwei Wochen gestorben, und das Blut bleibt nur an unseren Händen kleben.«
»Wer hat dieses Spielzeug?«, fragte Gu Zhen. »Und spielt es eine Rolle, was mit demjenigen passiert?«
Acht
NEW YORK CITY
FREITAG, 20. MAI, 11:20 UHR
»Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat einer meiner Vorfahren mit anderen Mitgliedern des Phoenix Clubs ein Projekt finanziert. Ihr Ziel war, einen Duft zu entwickeln, der es Menschen ermöglichen sollte, sich an ihre früheren Leben zu erinnern«, erklärte Dr. Malachai Samuels. Dann überreichte er Jac mit großer Geste einen tief gekerbten Kristallglasflakon, in dem nur wenige Milliliter einer zähen bernsteinfarbenen Flüssigkeit standen.
Als sie danach griff, brach sich ein Lichtstrahl, der durch die gläserne Flügeltür zum Hinterhof hereindrang, funkelnd in den Glasfacetten. Kleine Lichtbündel durchzuckten den Raum, und Regenbogen tanzten an der Zimmerdecke.
In ihrer Kindheit hatte ihre Mutter Jac manchmal, wenn sie selbst an ihren Gedichten arbeiten wollte und die Kinderfrau nicht da war, kurzerhand in die Werkstatt gebracht. Außer im Winter standen dort die Türen zum Garten meist offen. »Die frische Luft bereinigt meine Fehler«, sagte ihr Vater immer. Und so war es. Wenn die Türen offen waren, roch es gar nicht nach Parfüm, nur nach Gräsern, Zypressen und dem, was draußen gerade blühte: Rosen, Hyazinthen oder Pfingstrosen.
Louis legte Kissen auf dem Boden aus und gab Jac einen Karton voller Flakons, deren Verschluss fehlte.
Es war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.
Jac hielt die Flakons ins Licht und malte mit den Lichtbrechungen Bilder an die Zimmerdecke.
»Meine Lichtmalerin«, nannte ihr Vater sie dann voller Bewunderung.
Das war eine der guten Erinnerungen an ihren Vater: mit ihm in der Werkstatt zu sein, wenn die Sonne und die Frischluft alle Dämonen und Schatten vertrieben.
»Öffne es.« Malachai holte sie in die Gegenwart zurück. »Und riech daran. Ich will wissen, was du davon hältst.«
Der schwere, mit Bernstein besetzte Silberverschluss war leicht zu öffnen. Jac beugte sich über den Flakon und atmete ein. Das Parfüm roch unspektakulär, nach Weihrauch, Myrrhe und Styrax. Es roch, wie es aussah – flach, ohne Glanz und ohne Leben.
»Weißt du genauer, wie alt es ist?«
»Nach den Unterlagen, die ich gefunden habe, muss es aus den Achtzehnhundertdreißigern sein.«
»Und hast du eine Ahnung, wer es hergestellt hat?«
»Der Phoenix Club hat damals eine französische Parfümerie beauftragt …«
Jac hob den Blick von dem Flakon. Sie ahnte, was Malachai jetzt sagen würde. »Und diese Parfümerie war das Haus L’Étoile?«
Er nickte.
»Robbie hat schon gesagt, dass mich eine Überraschung erwartet.«
»Eine positive, hoffe ich.«
»Was für ein unglaublicher Zufall.« Sobald sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, dass er sie korrigieren würde.
»Synchronizität ist kein Zufall«, sagte Malachai. »Sie ist die treibende Kraft hinter aller menschlichen Erfahrung seit Anbeginn der Zeiten. Zeitgleiche Ereignisse, die uns zufällig erscheinen,stellen sich oft im Nachhinein als sinnhaft verbunden heraus. Sie sind kausal nicht erklärbar, was aber nicht heißt, dass sie voneinander unabhängig sind.«
Jac wartete, bis er mit seinem Vortrag fertig war. »Ist ein Meisterzeichen darauf?«, fragte sie.
»Hier, bitte«, sagte Malachai und reichte ihr ein Vergrößerungsglas. »Da unten.« Er zeigte es ihr. »Bis vor einer Woche dachte ich, das sei der Stempel des Schmieds. Deshalb haben meine Nachforschungen nie etwas ergeben. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass der Parfümeur sein eigenes Zeichen eingestanzt haben könnte. Geschweige denn, dass ich Jahrhunderte später eine derart enge Verbindung zu seiner Familie haben würde.«
Er lächelte, wobei sich jedoch nur seine Mundwinkel hoben, ohne dass die Emotion in seinen Augen Ausdruck fand. Seine Freude, sein Humor und seine Herzlichkeit blieben im Verborgenen. Er trug sein Lächeln wie eine Maske. Doch das war Jac nicht unangenehm, im Gegenteil: Es gab ihr Sicherheit und Halt.
Nicht sein Herz, sondern sein Hirn hatte sie vor sechzehn Jahren vom Rand des Abgrunds weggelotst.
Jacs Erkrankung hatte nach dem Tod ihrer Mutter ihren Höhepunkt erreicht. Nichts von dem, was die vielen Ärzte ihr verschrieben, vermochte die Wahnvorstellungen einzudämmen. Medikamente machten sie müde und vernebelten ihr das Hirn. Die schrecklichen Elektroschocks verursachten Übelkeit
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