Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
durchgemacht. Bevor sie die letzte Schnittfassung betrachtete, wollte sie noch einmal den Kopf freibekommen, also öffnete sie das Fenster, lehnte sich hinaus und sog die frische Luft ein. Durch die Lücken zwischen den Gebäuden konnte sie den Hudson River sehen und blickte einem Schlepper nach, bis er hinter einem Lagerhaus verschwand.
»Minotaurus« würde ihre beste Folge werden. Die Suche nach den Ursprüngen dieses Mythos war extrem schwierig gewesen, doch wenn im Herbst gesendet wurde, welche Ereignisse seinen wahren Kern bildeten, würden ihre Forschungsergebnisse unter Mythologen und Archäologen sicher eine Debatte auslösen.
Der Sage nach hatte der kretische König Minos ein gewaltiges Labyrinth erbauen lassen, um den Minotaurus darin einzusperren, das monströse Resultat einer Affäre von Minos’ Frau mit einem wunderschönen weißen Stier, der aus dem Meer emporgestiegen war. Der Minotaurus war von menschlicher Gestalt, aber mit dem Kopf und dem Schwanz eines Stiers und einem grauenhaften Hunger auf Menschenfleisch. Da der Minotaurusüberall Schrecken und Chaos verbreitete, wurde Daidalos damit beauftragt, ein Labyrinth zu bauen, das verworren genug war, um das Untier gefangen zu halten.
Seither lebte der Minotaurus in dem Irrgarten. Doch alle neun Jahre mussten sieben junge Frauen und sieben junge Männer aus Athen seinem Heißhunger geopfert werden, und dieser Blutzoll sorgte für unsagbar viel Leid. Endlich beschloss Theseus, Sohn des Königs Aigeus, das Monster zu besiegen und den Verheerungen ein Ende zu setzen, und meldete sich freiwillig als Opfer. Als er nach Kreta kam, verliebte sich Ariadne, die Tochter des Minos, in ihn, und die Vorstellung, ihn zu verlieren, war ihr unerträglich. Sie gab ihm ein Schwert und ein Knäuel roten Garns, damit er den Minotaurus töten und den Ausweg aus dem Labyrinth finden sollte – und sie heiraten konnte. Der Plan ging auf: Als Theseus dem Mischwesen gegenüberstand, griff er an und tötete es. Dann kehrte er mit Hilfe des Fadens zu Ariadne zurück und nahm sie mit sich nach Athen.
Gab es eine wahre Geschichte hinter diesem Mythos? War ein Monster oder vielleicht ein Verrückter in einem Labyrinth eingesperrt worden?
Archäologen waren lange davon ausgegangen, dass die Ruinen des Palasts von Knossos nahe dem heutigen Heraklion das reale Vorbild für das sagenhafte Labyrinth sein mussten. Es gab zwar keinerlei Belege für diese These, doch die Stadt profitierte von den vielen Touristen, die den Palast und seine Umgebung besichtigen wollten.
Doch Jac hatte von einer Grabungsstätte bei Gortys gehört, wo Archäologen ein vier Kilometer langes System aus Gängen und Kammern in einem Berg freigelegt hatten. Konnte das König Minos’ Labyrinth sein? Jac reiste nach Kreta, um es herauszufinden. Mit Hilfe der Archäologen erkundeten sie und ihr Team die weitverzweigten, verschlungenen unterirdischenWege. In einer der Kammern erleuchtete der Scheinwerfer ihrer Kameras in einer scheinbar soliden Wand den schwachen Umriss eines Durchgangs.
Vor laufender Kamera machten sich die Archäologen an die Arbeit und fanden den versiegelten Eingang zu einer verborgenen Höhle. Jacs Kameramann filmte, wie zum ersten Mal seit tausenden Jahren Licht in das Dunkel der Kammer fiel.
Die Wände des Hohlraums waren mit rötlichen Bildern auf schwarzem Grund dekoriert, die jeweils von einem vergoldeten Blätterkranz gerahmt waren. Es waren verblüffend gut erhaltene Darstellungen junger Paare. Manche schienen mit Sorgfalt gestaltet worden zu sein, andere sahen aus, als hätte der Künstler sie aus Platzmangel notdürftig in die Zwischenräume eingepasst.
Jac zählte. Je vierzehn Menschen waren zu einer Gruppe zusammengefasst. Sieben Männer, sieben Frauen. Jedes Mal.
In der Mitte der Kammer stand etwas, das zunächst wie ein steinerner Altar aussah, etwa einen Meter achtzig lang und knapp einen Meter hoch. Er war reich verziert, voller tief eingekerbter Darstellungen von – waren das etwa Augen, die den Eindringlingen entgegenstarrten? Der Kameramann trat näher heran und machte eine erschreckende und – für Jac zumindest – faszinierende Entdeckung.
Der Altar war nicht aus Stein, sondern aus menschlichen Knochen gefertigt. Jemand hatte hunderte Ober- und Unterschenkelknochen, Ellen und Speichen und Hüftknochen kunstvoll zu einem großen Quader zusammengefügt. Ohne selbst zu wissen warum, war Jac sofort sicher, dass dies das Versteck des Minotaurus sein musste und die
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