Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
zweihundert Jahre lang hatten ihre Vorfahren aus diesen uralten Glasfläschchen immer neue Rezepturen zusammengemischt. Jetzt standen sie wie kleine gläserne Särge aufgereiht, die darauf warteten, von solch einem Magier zu neuem Leben erweckt zu werden. War Robbie dieser Aufgabe gewachsen?
Sie war zu alt für diese kindlichen Ängste. Entschlossen ging Jac auf die Duftorgel zu und setzte sich davor. Die Essenzen, die hier standen, waren dieselben wie in jeder anderen Werkstatt auch. Doch von all den Labors, die Jac in ihrem Leben besucht hatte, hatte keines so eigenartig gerochen wie dieses. Da war er wieder: dieser geheimnisvolle Duft, den sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr wahrgenommen hatte. Jac legte den Kopf auf ihre gekreuzten Unterarme und schloss die Augen.
Robbie hatte den Geruch als Kind den Duft des Trostes genannt. Als Erwachsener hatte er versucht, ihn nachzumischen. Jac schüttelte darüber nur den Kopf. Sie fand den Geruch alles andere als tröstlich. Düster und verstörend war er, ein Hauch längst vergangener Zeiten. Ein Geruch der Reue und des Verlusts, vielleicht sogar des Wahnsinns.
Jetzt, da sie ihm so nahe war, wurde der Duft überwältigend intensiv. Ein beinahe euphorisches Schwindelgefühl zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie klammerte sich an der Tischkante fest, als es sie erfasste. Vor ihren geschlossenen Augenerschien ein Wirbel orange-blauen Lichts. Ein schillerndes Dunkel. Ein lebhaftes, üppiges Grün.
Kaleidoskopische Bilder stiegen vor ihr auf und zerfielen, ehe sie begriff, was sie sah. Duftnoten flossen wie Farben ineinander. Sie sah, wie sie sich mischten, sah den Tanz der Moleküle, der ihr immer neue olfaktorische Schauder über den Rücken jagte. Das hier war mehr als ein Geruch. Weit mehr. Dieser Duft war eine Droge, eine Reise auf einem fliegenden Teppich. Jac segelte über eisige Wolkenberge hinweg, über ein Meer von Bäumen, das jedes Traumbild an Schönheit übertraf. Fragmentierte Gesichter tauchten auf, sprechende Augen, sehende Münder.
Immer schneller drangen die Bilder auf sie ein, zersplitterten und fielen ihr wie ein Scherbenmosaik zu Füßen. Türkis und Lapislazuli. Gold. Silber. Die Düfte flüsterten ihr etwas zu und neckten sie. Plötzlich umschloss sie eine feuchte Kälte, ein Kerker voller Verlust, Trauer und Erleichterung. Allmählich gelang es ihr, den Strudel der Bilder zu verlangsamen und Einzelheiten zu unterscheiden. Nichts Vertrautes, lauter fremde Orte, an denen sie nie gewesen war. Ein Flussufer, eine steinerne Einfriedung, ein Palmenhain. Und Geräusche. Ein Durcheinander von Vogelstimmen. Das Weinen einer Frau. Das Flüstern eines Mannes, der ihr am Ufer tröstende Worte zuraunte. Seine Sprache – nein, es war kein Französisch. Und unzählige Gerüche. Manche waren vertraut, andere so fremd wie die Sprache des Mannes und der Frau. Er war dunkelhäutig, trug einen Wickelrock. Die Frau konnte Jac zuerst nicht erkennen. Dann begriff sie es: Sie selbst war diese Frau. Ein zartes Leinengewand umhüllte ihren Körper, und ihre Füße steckten in mit Edelsteinen verzierten Sandalen. Der Mann war ihr vertraut. Sein Gesicht nicht, doch sein Geruch, ein würziger, harziger Duft, der sie umschmeichelte und anzog. Sie fühlte Nähe, Wärme, Sehnsucht. Erfüllung. Hier gehörte sie her. Zu ihm.
Dann packte sie die Angst. Die grausame Furcht vor der drohenden Trennung. Was geschah mit ihr?
Jac versuchte vergeblich, die Augen zu öffnen. Wieder wurde sie von dem Strudel erfasst. Der Mann, die Frau, der Fluss waren verschwunden, auch die Gerüche. Ein Nachthimmel, der in tausend dunkle Scherben zerfiel.
Dann war sie anderswo.
Die Luft war schwer von Weihrauch. Die Angst verschwunden. Hier in der Kirche, neben ihren Eltern und ihrer Schwester, hier war sie in Sicherheit. In Frieden.
Neunzehn
PARIS, FRANKREICH, 1789
Saint-Germain-des-Prés war die älteste Kirche von Paris. Unter ihrem reich vergoldeten Deckenmosaik, zwischen ihren Marmorsäulen fühlte sich Marie-Geneviève Moreau so geborgen wie nirgendwo sonst. Doch heute war sie ebenso ruhelos wie ihre kleine Schwester, die wieder an dem Saum ihres Kleides nestelte, obwohl die Mutter schon mehrmals die Hand des Mädchens fortgeschoben hatte.
Vor hunderten von Jahren hatte an ebendiesem Ort ein Tempel der Göttin Isis gestanden, und das war einer der Gründe, warum sie so gern hier war. Nicht, weil sie die Nähe Gottes suchte und fand, sondern die Nähe zu Giles. Wenn
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