Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
toxische Stoffe verdampfen lassen, die den Anfall verursachten.«
»Mein Bruder ist Parfümeur. Er arbeitet ständig mit toxischen Chemikalien. Sie glauben doch nicht …«
Marcher senkte entschuldigend den Kopf, doch seine Worte passten schlecht zu seiner defensiven Haltung. »Wir wissen nichts Genaues, Mademoiselle. Noch nicht. Aber vielleicht können Sie uns weiterhelfen. Würden Sie sich einmal ansehen, was hier auf dem Tisch steht? An was für einer Rezeptur könnte Ihr Bruder gearbeitet haben, wenn er dafür Benzylchlorid erhitzen musste?«
»Inspektor, jemand ist unter falschem Namen hier eingedrungen. Und jetzt ist mein Bruder verschwunden – entführt, vermutlich. Wie können Sie da zu dem Schluss kommen, er hätte einen Mord begangen?«
»Mademoiselle, ich ziehe keinerlei Schlüsse. Ich ziehe bloß verschiedene Möglichkeiten in Betracht. Ein Mann ist tot. Ein anderer wird vermisst. Aus dieser Werkstatt scheinen wichtige Objekte entfernt worden zu sein, möglicherweise wurden sie gestohlen. Wir wissen es nicht, doch ich versichere Ihnen, dass ich fest vorhabe, das alles aufzuklären.«
Achtzehn
Nachdem der Inspektor gegangen war, setzte sich Jac an den Schreibtisch ihres Bruders und begann systematisch seine Papiere durchzugehen. Was hätte sie sonst tun sollen? Sie musste herausfinden, was Robbie vorgehabt hatte. Mit wem er sich getroffen hatte. Worauf er sich eingelassen hatte. Sicher hatte die Polizei die Unterlagen ebenfalls durchsucht, doch vielleicht war ihnen ein Hinweis entgangen.
Bestimmt ging es ihrem Bruder gut. Bestimmt war er ganz in der Nähe.
Das Telefon schrillte. Jac schrak hoch und starrte den Apparat an. Es klingelte wieder. Robbie hatte einen Anrufbeantworter, und Marcher hatte gesagt, dass alle Gespräche mitgeschnitten wurden. Sie musste also nicht abnehmen. Doch was, wenn es Robbie war? Was, wenn er sich verletzt hatte, bei einem Freund untergekommen war und jetzt anrief, weil es ihm wieder besser ging?
»Allô?«
Keine Antwort.
»Robbie?«
Atemgeräusche. Stille. Dann ein leises Klicken. Verdammt. Sie hätte seinen Namen nicht sagen sollen. Was, wenn er in Schwierigkeiten war und ihre Hilfe brauchte? Dann wollte ervielleicht nicht, dass die Polizei davon erfuhr. Vielleicht ahnte er, dass das Telefon abgehört wurde. Wenn sie dann seinen Namen sagte, konnte er nicht mit ihr sprechen, so sehr er es auch wollte.
Nein, das war Unsinn. Robbie wusste nicht einmal, dass sie in Paris war. Der Anrufer hatte sicher Robbie sprechen wollen, hatte sich gewundert, eine weibliche Stimme zu hören, und deshalb aufgelegt.
Sie starrte auf das Telefon, als könnte sie es zwingen, wieder zu klingeln. Den Anrufer zwingen, es noch einmal zu versuchen. Doch es blieb still.
Um sich wieder ihrer Aufgabe zuzuwenden, nahm Jac sich als Nächstes den Inhalt einer Schreibtischschublade vor. Plötzlich fuhr ein Windstoß zur offenen Tür herein. Rechnungen, Briefe, Umschläge und Notizzettel wirbelten durch die Luft.
Sie schloss die Tür und begann das erneute Chaos zu beseitigen. Einige der Zettel hatten sich zwischen den Fläschchen auf der Duftorgel verfangen. Jac blieb, wo sie war, und sah zu dem uralten Laboratorium hinüber.
In ihrer Kindheit war es Robbie und ihr verboten gewesen, sich der Orgel zu nähern, weil die darin aufbewahrten Öle und Essenzen zu kostbar waren. Das Tabu verlieh ihr eine geheimnisvolle Aura. Etwas Magisches und allzu Verführerisches.
Manchmal hatte Jac lange in der gegenüberliegenden Ecke des Raums gesessen und das Flammenspiel der Sonnenstrahlen auf den Glasfläschchen bestaunt. Leuchtende Farbtupfer tanzten über die Wände, über die Decke und über ihre ausgestreckten Arme. Flüchtige Augenblicke der Schönheit – bis wieder Wolken aufzogen und die Orgel im Schatten versank. Wie ein hingekauertes Phantom, das hässliche und zarte, machtvolle und fremdartige Gerüche absonderte.
Einige der Ausgangsstoffe waren inzwischen so alt, dassRobbie sie vermutlich nicht mehr benutzen konnte. Von manchen konnte nicht mehr als das Sediment geblieben sein. Andere waren so selten, dass man sie, wenn sie aufgebraucht waren, nur noch synthetisch ersetzen könnte.
Das Handwerk des Parfümeurs änderte sich. Nur das Talent, das nötig war, um einen wahrhaft großen Duft zu kreieren, blieb sich gleich. Um Dutzende einzelne Noten zu einem sinnlichen, unvergesslichen Gesamteindruck zu verschmelzen, brauchte es noch immer einen wahren Magier der Düfte. Über
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