Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
der Priester das silberne Weihrauchfass schwenkte und der Duft des Harzes sie umfing, fühlte sie sich ihm näher denn je.
Vor einem Jahr war Giles L’Étoile nach Ägypten aufgebrochen. Sein Vater und seine Brüder begrüßten es, dass der jüngste Spross der Familie beschlossen hatte, die uralten Methoden und Materialien der altägyptischen Parfümeurskunst zu erforschen. Die Geschichte Ägyptens war so reich an Geheimnissen wie an Düften; nirgends konnte man die Verfahren der Duftextraktion aus Blüten und Hölzern, das Pressen, die Enfleurage, die Mazeration oder Destillation besser erlernen als in jenem Land, in dem viele dieser Verfahren erst erfundenworden waren. Sollten sich die klassischen ägyptischen Methoden als überlegen erweisen, könnte das Haus L’Étoile mit ihrer Hilfe seine Wettbewerber übertrumpfen. Denn zwischen den Pariser Parfümeuren herrschte ein Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende harte Konkurrenz.
Marie-Geneviève war die Einzige, die um Giles bangte.
Solange sie denken konnte, hatte sie ihn gekannt und geliebt. Ihr Vater hatte als Gerber seit jeher den alten L’Étoile mit Leder für seine feinen parfümierten Handschuhe versorgt. Die beiden Kinder waren seit frühester Kindheit unzertrennlich gewesen – als sei einer von ihnen, hatte Marie-Genevièves Mutter einmal gesagt, ein linker Handschuh und der andere der rechte.
Dass sie einmal heiraten würden, hatte nie in Frage gestanden. Marie-Geneviève war davon ausgegangen, dass es so weit wäre, sobald sie achtzehn war, doch dann hatte Giles beschlossen, zuerst nach Ägypten zu fahren. Er sagte, er wollte mehr von der Welt sehen als die Straße, in der er aufgewachsen war. Diese Bemerkung schmerzte, obwohl Marie-Geneviève wusste, dass er es nicht böse meinte. Sie begriff nur nicht, was jenseits dieser Straße – und vor allem jenseits ihrer Umarmungen, seiner Wärme und des Duftes seiner Haut im Nacken – es wert sein sollte, alles hinter sich zu lassen.
»Ich habe Angst«, gestand sie ihm flüsternd in der Nacht vor seiner Abreise.
Er lachte. »Glaubst, du, ich lerne eine ägyptische Prinzessin kennen, die mich nicht mehr gehen lässt?«
»Nein …«
»Was dann?«
Sie mochte ihm nicht von dem grauenhaften Alptraum erzählen, der sie wieder und wieder heimsuchte.
Giles tief unten in einem Grab. Im Sandsturm. Quälend langsam hüllt der Staub ihn ein, dringt ihm in die Augen, in den Mund, die Kehle und nimmt ihm den Atem.
»Was hast du, Marie?«
»Ich habe Angst, dass du nicht wiederkommst.«
»Aber wie könnte ich das? Was könnte mich davon abhalten, wenn du mich hier erwartest?« Er küsste sie, wie nur er es konnte. Sie waren vorsichtig. Marie-Geneviève war ein kluges Mädchen und wollte nicht zu früh ein Kind bekommen. Nicht aus religiösen Gründen, nicht, weil sie es für eine Sünde hielt, sondern weil sie Giles noch mit niemandem teilen wollte.
Jetzt kniete sie vor dem Altar, faltete die Hände zum Gebet, sah zu dem Abbild des Heilands Jesus Christus auf und wartete geduldig darauf, dass der Priester ihr Leib und Blut des Auferstandenen reichte. Sie schloss die Augen und sah auf einmal Giles vor sich, nicht den Heiland. Es war Giles’ Leib und sein Blut, das ihr gereicht wurde. Schon stieg wieder die vertraute Panik in ihr auf.
Wie konnte sie nur so etwas Blasphemisches denken? Der Weihrauch erinnerte sie an Giles, aber woher nahm sie die Vorstellung, die Hostie könne der Leib ihres Geliebten, im goldenen Kelch könne sein Blut sein?
Oft ging sie zur Beichte und wollte sich zu diesen Verstiegenheiten bekennen, doch sie brachte es nicht über sich. Es beschämte sie zu sehr, und sie gestand stattdessen andere Vergehen.
»Ich sorge mich so um Giles, dass ich meine Stickereien verderbe, und dann wird Maman wütend und schreit mich an, weil sie nur makellose Ware verkaufen kann.«
»Du musst auf die Jungfrau Maria vertrauen«, antwortete der Priester durch das eiserne Gitter. »Und wenn die Furcht dich übermannt, musst du beten, Marie-Geneviève. Von ganzem Herzen beten.«
Genau das tat sie jetzt und wartete geduldig auf die heilige Kommunion. Hinter sich hörte sie andere Gläubige, die das Sakrament bereits empfangen hatten. Das Scharren ihrer Füßeauf dem Steinboden, das Rascheln ihrer Kleider, das Klacken ihrer Rosenkränze, ihre leisen Gebete erfüllten die Kirche mit vertrauten Geräuschen: dem Klang reinen Glaubens. Wie gern hätte sie Anteil daran gehabt.
»
Mon Dieu, non, non, mon Dieu!
«
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