Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Familie auf dem Land verbringen. Doch die Freundin war krank geworden, also waren ihre Eltern früher heimgefahren und hatten Jac zu Hause abgesetzt. Das Haus war leer, als sie kam. Jac sah in der Werkstatt Licht brennen und ging nachsehen, ob ihr Vater dort war.
Jacs Großmutter war später diejenige, die unter die Duftorgel kroch. Die behutsam die Arme des Mädchens löste, mit denen sie die Beine ihrer Mutter umklammert hielt. Die ihren Kopf vom Schoß der Leiche hob. Jac war tropfnass – von ihren Tränen und von dem Inhalt dutzender zerbrochener Glasgefäße. An ihren Fingern hing die Haut in blutigen Fetzen herab.Tiefe Schürfwunden zogen sich rund um ihre Handgelenke und Unterarme wie Dutzende Armreife übereinander.
Weil Jac als Erste bei ihrer Mutter gewesen war, hatte der Inspektor nicht umhin gekonnt, sie zu befragen. Es hatte jedoch Stunden gedauert, bis er Antworten bekam. Jac konnte in ihrem Zustand nicht zusammenhängend erzählen, was sie gesehen hatte.
Eine Horde rasender, schreiender Menschen war mit ihr in der Werkstatt gewesen. Sie hatten all die Flaschen zerbrochen. Vor ihnen hatte sich Jac unter der Duftorgel zu Füßen ihrer Mutter versteckt. Was, wenn sie sie fanden? Sie hatten Audrey getötet. Würde sie das nächste Opfer sein? Warum verwüsteten sie die Werkstatt? Warum waren sie so schmutzig und trugen alte, abgerissene Kleider? Und warum rochen sie so abstoßend? Selbst das vergossene Parfüm hatte ihren Gestank nicht überdecken können.
Nein, sie wusste nicht, wie lange sie schon dort gewesen war. Nein, die Flaschen hatte sie bestimmt nicht zerbrochen. Nein, sie konnte nicht unterscheiden, was wirklich und was Einbildung war. Jetzt nicht mehr. Und vielleicht nie wieder.
Marcher kramte eine Schachtel Zigaretten hervor. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich rauche, solange wir hier im Freien sind?«, fragte er.
Jac rauchte schon lange nicht mehr, doch jetzt bat sie ihn um eine Zigarette. Er schüttelte die Packung, hielt sie ihr hin und steckte Jacs Zigarette mit einem Streichholz an. Die Mischung aus Tabak und Schwefeldämpfen war eine willkommene Ablenkung.
Jac spürte, dass die zurückhaltende Art des Inspektors fast so etwas wie eine Entschuldigung war, ein Ausdruck des Bedauerns dafür, dass er Zeuge der Tragödie ihrer Jugend geworden war.
Selbst ein Zug an der Zigarette war ihr schon zu viel. Jac ließsie zu Boden fallen und trat sie aus. Dabei fiel ihr das schwarzweiße Yin-Yang-Muster auf, das den Obelisken umgab. Sie hatte es ganz vergessen. »Gehen wir wieder ins Haus«, sagte sie und begann ihm unterwegs ihre Fragen zu stellen.
»Haben Sie irgendeinen Hinweis darauf gefunden, wo mein Bruder sein könnte?«
»Bis jetzt nicht, nein.«
»Und der Mann, der hier gefunden wurde – wissen Sie, wer er ist?«
»Mit dem tun wir uns auch schwer.«
»Wie meinen Sie das?«
»In dem Terminkalender Ihres Bruders war ein Treffen mit Charles Fauche eingetragen, einem Mitarbeiter des
International Journal of Fragrance
. Es gibt zwar einen Mann dieses Namens, der für diese Zeitung arbeitet, doch der hält sich seit fünf Tagen in Italien auf.«
»Also wissen Sie nicht, wen Sie da gefunden haben?«
»Leider nein. Wir wissen nur, dass er bisher nicht aktenkundig geworden ist. Weder in unseren Datenbanken noch bei Interpol finden sich seine Fingerabdrücke.«
Sie erreichten die Tür zur Werkstatt, die noch immer offen stand.
»Dann haben Sie Robbies Kalender, Inspektor?«
»Ja, habe ich.«
Marcher ließ Jac den Vortritt und schloss hinter ihr die Flügeltür, die Jac gleich darauf wieder öffnete. Die Gerüche setzten ihr zu sehr zu.
»Würden Sie ihn mir geben?«, fragte sie.
»Er ist ein wichtiges Beweisstück.«
»Sie könnten doch rausschreiben, was Sie interessiert. Oder meinetwegen alles kopieren. Aber dieser Kalender gehört meinem Bruder, und …« Sie unterbrach sich. »Ein Beweisstück?«
»Ja.«
»Robbie ist verschwunden. Ich dachte, Sie suchen ihn, weil er in Gefahr sein könnte.«
»Ja. Und weil wir ihn zu dem Vorfall hier befragen müssen.«
»Aber wieso? Am Telefon haben Sie doch gesagt, dass Charles Fauche – oder wie er nun heißt – eines natürlichen Todes gestorben ist. Dass er einen Asthmaanfall hatte.«
»Den hatte er, ja. Der wurde allerdings durch etwas ausgelöst, das der Mann eingeatmet hat.«
»Aber was kann dann Robbie dafür? Der Mann wusste, dass er eine Parfümerie betritt.«
»Es sieht danach aus, als hätte Ihr Bruder hier
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