Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Die raue, gebrochene Stimme einer Frau hallte durch die andächtige Stille, als brächen die Worte gegen ihren Willen aus ihr hervor.
Marie-Geneviève blickte sich suchend um. Dann sah sie im Mittelgang Giles’ Mutter, von ihrem Mann Jean-Louis gestützt. An seinem entsetzten Gesicht war abzulesen, was die Stimme seiner Frau angekündigt hatte. Es war, als sei er nicht länger er selbst, Giles’ Vater, sondern eine der steinernen Statuen in den Nebenaltären.
Vor den beiden stand ein zerlumpter Mann, der aussah, als hätte er sich seit Tagen nicht gewaschen. Hatte er den L’Étoiles eine schlechte Nachricht überbracht? Eine Nachricht aus weiter Ferne, aus Ägypten?
Marie-Geneviève wollte hinlaufen, doch ihre Mutter hielt sie zurück.
»Du musst warten, bis sie zu dir kommen.«
Aber Marie-Geneviève scherte sich nicht um die Konventionen. Sie machte sich von ihrer Mutter los, stürzte auf Giles’ Eltern zu und erreichte sie gleichzeitig mit seinen Brüdern.
Der Priester hatte den Gottesdienst unterbrochen. Alles schwieg. Alle Augen richteten sich auf die Familie.
Jean Louis reichte seine Frau an den ältesten Sohn weiter wie eine Puppe und ging Marie-Geneviève entgegen. Seine Hände waren eiskalt, als er die ihren berührte, und Marie zuckte erschrocken zurück. Diese Berührung sagte ihr alles, was er ihr mitzuteilen hatte. Wenn sie gar nicht hinhörte, vielleicht wäre es dann nicht wahr. Wenn er die Worte nicht aussprach, vielleicht konnte sie dann weiter auf Giles’ Rückkehr warten, weiter seine Verlobte sein, weiter davon träumen, wie er aussah,wie er roch, wie zärtlich er war und dass er zu ihr gehörte wie ein parfümierter Lederhandschuh zum anderen.
»Unser Giles …« begann Jean-Louis mit gebrochener Stimme.
In dem Moment sackten ihr die Beine weg.
Zwanzig
PARIS, FRANKREICH
MITTWOCH, 25. MAI, 10:00 UHR
»Tot?« Valentine starrte William ungläubig an. Er hatte noch mehr gesagt, doch alles andere hatte sie nicht mehr wahrgenommen. »François ist nicht tot.« Unwillkürlich war sie in den chinesischen Dialekt ihrer Mutter verfallen.
»Doch«, sagte William. Obwohl es ein warmer Tag war, zitterte er und hatte sich die Arme um den Körper geschlungen. »Meine Kontaktperson hat mir eine Kopie des Polizeiberichts gemailt, samt Todesurkunde.«
»Das ist ein Irrtum. Eine Verwechslung.«
»Valentine, es war ein Foto dabei. Ein Foto von François, wie er im Leichenschauhaus …«
Sie überschrie seine Worte. »Hör auf! Hör endlich auf! Es ist nicht wahr!«
William nahm sie in die Arme und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Seine Tränen durchdrangen den dünnen Stoff ihres T-Shirts.
Abrupt schob Valentine ihn von sich weg, stürzte ins Badezimmer zur Toilette und würgte.
Als sie fertig war, ließ sie sich zusammengekrümmt auf die kalten Fliesen sinken.
Unmöglich. Es musste ein Irrtum sein.
William hatte sie angerufen, als François um Mitternachtnoch nicht zu Hause war. Sie hatte ihn beruhigt. François’ Job war unberechenbar. Vielleicht musste er den Parfümeur durch halb Paris verfolgen. Um zwei hatte William wieder angerufen. Und bei Sonnenaufgang. Wieder hatte sie ihm geraten, sich keine Sorgen zu machen. Dienstag war der längste Tag ihres Lebens gewesen. Wenn William die Fassung zu verlieren drohte, behielt sie die Nerven.
»Du kennst die Regeln«, sagte sie in Gedanken an das, was François ihr beigebracht hatte. »Keine voreiligen Schlüsse. Halte dich an die Fakten.«
William folgte ihr ins Badezimmer. Er half ihr auf, feuchtete einen Lappen an und wusch ihr behutsam das Gesicht. Dann drückte er Zahnpasta auf eine Zahnbürste und reichte sie ihr. »Das wird dir guttun«, sagte er und ließ sie allein.
Als Valentine ins Esszimmer zurückkam, saß William am Tisch und starrte auf eine leere Vase. Valentine setzte sich ihm gegenüber, steckte sich eine Zigarette an und nahm einen langen, tiefen Zug.
»Asthma, hast du gesagt?«, fragte sie.
Er nickte.
»Das hätte ich doch gewusst. Das hätte François mir gesagt.« Sie betrachtete gedankenverloren die Glut ihrer Zigarette. »Ich habe dauernd in seiner Gegenwart geraucht.«
»Ich mache uns Tee.« William stand auf.
»Tee?« Valentine lachte hysterisch auf. François hatte auch dauernd Tee gekocht. Besonders zu Krisenzeiten ließ er seine Tasse nie leer werden. In so vielen Kulturen gehörten Krisen und Tee fest zusammen. Als könnte heißes Wasser Wunder wirken. Wer hatte mit diesem Unsinn
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