Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
seinetwegen, sondern wegen Valentine.
»Es ist eine Sache, gegen einen Unbekannten vorzugehen«, hatte er noch vor zwei Tagen gesagt. »Aber das hier könnte deine bisher schwerste Prüfung werden. Du wirst dich wappnen müssen, Valentine.«
Es gab nur zwei Männer, die ihr etwas bedeuteten.
François Lee, der ihr das Leben gerettet hatte und ihr ein Vater gewesen war.
Und Robbie L’Étoile, der ihr das Herz geöffnet hatte, der Einzige, dem sie je gestattet hatte, sie zu berühren.
Jetzt würde sie aus Rache für den einen vielleicht den anderen töten müssen.
Einundzwanzig
Jac griff nach der Tischkante und zwang sich aufzustehen. Ihr ganzer Körper bebte. Der Raum schien zu glühen, als erfüllten ihn die Glasfläschchen mit Licht, als seien sie zum Leben erwacht. Vorsichtig trat sie einen Schritt zurück. Und dann den zweiten. Endlich erreichte sie die gegenüberliegende Wand.
Die Duftorgel war wieder ein ganz normaler Arbeitsplatz.
Jac ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, um sich zu vergewissern, dass sich nichts bewegte, dass nichts waberte oder glomm. Nur so konnte sie sicher sein, dass sie wieder bei Verstand und der Schub vorüber war.
Nach der Wanduhr aus schwarzem Onyx und Alabaster war kaum Zeit vergangen, höchstens fünf oder sechs Minuten.
Es war so lange her, dass ihr zuletzt die ihr bekannte Welt entglitten war und sie sich in einer fremden Umgebung wiedergefunden hatte. Doch einen psychotischen Schub vergisst man nicht so leicht. Dieser letzte hatte weit länger gedauert und war lebendiger gewesen als alles, was sie als Kind hatte ertragen müssen. Im Vergleich hierzu waren die früheren Anfälle bloß kleine Risse in der Realität gewesen. Dieser war ein gähnender Abgrund.
Jac durfte sich das nicht erlauben. Nicht jetzt, wo Robbie verschwunden war. Wo die Polizei bei ihm ein und aus ging.Nicht noch einmal. Sie ließ sich zu Boden gleiten und umklammerte ihre Knie.
In ihrer Jugend waren die Halluzinationen flüchtig und unzusammenhängend gewesen, und sobald sie vorbei waren, hatte sie sich selten an Einzelheiten erinnert. Doch diesmal wusste sie noch alles genau. Sie hatte die Kirche noch detailliert vor Augen, hörte die Menschen und roch den Weihrauch mit fast schmerzhafter Intensität. Sie wusste genau, was die Frau gedacht hatte, was sie gesehen hatte …
Moment. Sie hatte einen Namen. Und ihr Verlobter auch. Jac hatte noch nie Menschen mit Namen herbeiphantasiert. Doch diesmal hatte sie in ihre Wahnvorstellungen sogar einen ihrer eigenen Vorfahren eingebaut.
Ein heftiges Poltern an der Tür ließ sie zusammenfahren. »Wer ist da?«, rief sie.
Es war einer der Polizisten, die vor dem Haus Wache hielten. Jac öffnete ihm.
»Der Inspektor hat das hier vorbeigebracht und mich gebeten, es Ihnen zu geben.«
Der Polizist reichte ihr ein schmales, in schwarzes Leder gebundenes Buch. Als Jac die Initialen R.L.E. auf dem Einband entdeckte, zog sich etwas in ihr zusammen. Mit zitternden Händen nahm sie das Buch entgegen und bedankte sich leise.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Soll ich Ihnen irgendetwas bringen lassen? Oder jemanden holen?«
»Nein«, sagte sie und lächelte. »Nein, danke, es geht mir gut.«
Als der Polizist gegangen war, öffnete Jac wieder die Tür zum Hof und setzte sich an den Schreibtisch. Eine Dreiviertelstunde lang blätterte sie, für jede Ablenkung dankbar, in dem Kalender ihres Bruders. Bei einem Termin zwei Wochen zuvor hielt sie inne: Es war der Todestag ihrer Mutter, der Tag, an dem Robbie nach New York geflogen war. Nach ihrem Treffen auf dem Friedhof hatte er sich verabschiedet, um noch einenanderen Termin wahrzunehmen. Mit wem er sich traf, hatte er nicht gesagt, und sie hatte nicht danach gefragt.
Doch hier stand er schwarz auf weiß – der Name, mit dem sie am wenigsten gerechnet hatte. Warum hatte sich ihr Bruder in New York mit Griffin getroffen? Sie blätterte weiter und fand weitere Verabredungen mit ihm. Griffin. Warum war er hier in Paris? Warum traf sich Robbie seit fast einer Woche jeden Tag mit ihm?
Die Erinnerung an einen Geruch stieg in ihr hoch.
Jac hatte Griffin schon gerochen, bevor sie ihn zum ersten Mal hörte oder sah, hatte sich zu seinem Duft hingezogen gefühlt, bevor sie seinen Namen kannte. Bei einer Party stand er hinter ihr. Jac drehte sich nicht um. Versuchte nicht, der Fährte zu folgen. Sie atmete nur.
Später fand sie heraus, dass sein Eau de Cologne in den 1930er Jahren von einer amerikanischen
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