Das Haus der verlorenen Herzen
Autobahn Palermo-Catania und setzten sich sofort auf die linke Seite. Dr. Volkmar klammerte sich am Haltegriff oberhalb des Handschuhfaches fest.
»Du lieber Himmel, wo hast du fahren gelernt?« rief er.
»Mir wachsen Flügel!« lachte sie zurück.
»Genau das befürchte ich!«
»Hast du Angst?!«
»Wenn ein Auto sich vom Boden abhebt, ist das nicht ganz normal!«
Sie lachte wieder, drehte bei diesem Irrsinnstempo sogar den Kopf zur Seite und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. Im Kofferraum war Giuseppe aus seiner Ohnmacht erwacht und rumorte herum. Er trat gegen die Seitenwände, versuchte, sich aufzurichten und durch den Spalt hinter den vorgeklappten Rücksitzen zu kriechen. Er versuchte zu schreien, aber das breite Heftpflaster über seinem Mund ließ nur dumpfe Töne heraus. Er zerrte an seinen Fesseln, sie waren jedoch so gut geschnürt, daß sie bei jeder Bewegung nur in die Haut schnitten, ohne sich auch nur um einen Millimeter zu verschieben. Ein Arzt hat gelernt, festsitzende Knoten zu machen.
An einem Autobahn-Parkplatz hielt Loretta und ließ Volkmar aussteigen. Er öffnete die Tür zu den Rücksitzen und beugte sich über Giuseppe, der ihn haßerfüllt anstarrte.
»Paß einmal auf, mein Freund«, sagte Volkmar eindringlich. »Wenn du nicht ruhig bist, bin ich gezwungen, dich wieder auf den Kopf zu schlagen, ist das klar? Die Knoten bekommst du nie auf. Schreien kannst du auch nicht. Wozu entschließt du dich?«
Giuseppe antwortete unter seinem Pflaster. Er bäumte sich hoch und stieß mit dem Kopf nach Volkmar.
»Das war die falsche Antwort.« Volkmar zögerte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, sollte die ganze Flucht nicht von Beginn an sinnlos werden. Er schlug also noch einmal zu, mit der Faust gegen die Schläfe, und drückte den erschlaffenden Körper zurück in den Kofferraum. Als er wieder neben Loretta saß, sah er, daß neben ihr auf der Mittelkonsole die offene Handtasche lag.
»Müssen wir ihn töten?« fragte sie.
»Nein! Ich könnte es auch gar nicht.«
»Soll ich es tun?«
»Du kannst einen Menschen umbringen?«
»Für dich würde ich alles tun, Enrico. Auch Giuseppe wird ein Mörder sein, wie die meisten Angestellten meines Vaters.«
»Fahr weiter«, sagte Volkmar tonlos. »An mir klebt genug Blut! Wieviel Zeit haben wir noch?«
»Noch knapp sechs Stunden.«
»Sechs Stunden? Das ist ein großes Risiko. Da kann noch viel passieren. Wir sollten Giuseppe in einer einsamen Gegend aussetzen. Wenn er aufwacht und im Wagen herumtobt, kann er auf dem Parkplatz vor dem Flughafen einen Großalarm auslösen. Ein gefesselter Mann im Kofferraum ist schließlich nichts Normales.«
»Warten wir's ab!« Loretta gab Gas, bog auf die Autobahn ein und raste weiter, in einem irrsinnigen Tempo Catania entgegen. Noch dreimal mußten sie anhalten, um Giuseppe zu beruhigen. Sie erreichten die Vorstädte von Catania, fuhren, um der Polizei nicht aufzufallen, im normalen Tempo durch die Straßen, bis Volkmar seine Hand auf Lorettas Arm legte.
»Anhalten!« sagte er. »Da ist eine Apotheke. Ich versuche es.«
Loretta bremste, fuhr an die Seite und hielt. »Was willst du versuchen?«
»Die Lektion II aus dem Fernsehen: Wie entführe ich einen Menschen? Wenn es gelingt, könnten wir gewonnen haben.«
Er sprang aus dem Wagen und ging über die Straße in die Apotheke.
Hinter dem Ladentisch stand ein junges, hübsches Mädchen in einem weißen Kittel und las in einem Magazin. Der Laden war leer, die Einrichtung veraltet. Mußte eine gesunde Gegend sein.
»Ich bin Arzt, Signorina«, sagte Dr. Volkmar mit freundlichem Lächeln. »Dr. Ettore Monteleone.«
Das Mädchen nickte, legte das Magazin zur Seite und schien nicht daran zu zweifeln, daß Dr. Monteleone in die Apotheke gekommen war.
»Bitte, Dottore?«
»Ich brauche etwas Watte und eine kleine Flasche Äther.«
»Äther?«
»Es kann auch Halothan sein.«
»Halothan haben wir nicht. Das weiß ich.«
»Dann eine Sprühflasche mit Chloräthyl?«
»Äther zum Tropfen haben wir. Aber …«
»Ein Notfall! In meinem Wagen. Ein Bekannter hat sich an der Tür den Unterarm aufgerissen. Ich muß ihn nähen. Wenn Sie es nicht glauben … kommen Sie mit hinaus. Dort drüben steht mein Auto …«
»Wieviel Äther, Dottore?« fragte das Mädchen. Auf die Straße zu gehen, war ihr zu unbequem. Außerdem: Wer Halothan kennt, muß ein Arzt sein. Wer kennt schon Halothan?
»Eine kleine Flasche genügt. Ich brauche nur ein paar Tropfen für
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