Das Haus der verlorenen Herzen
alt, aber Zeit spielte für Volkmar keine große Rolle mehr. Es war so unwichtig geworden, Neuigkeiten aus der Politik oder über Menschen noch brandaktuell zu empfangen. Früher hatte man am Fernseher gehockt und auf die Nachrichten gewartet. Beim Morgenkaffee galt der erste Blick den Zeitungen. Was hat sich in der Welt getan?! Der erdumspannende Klatsch war wie eine Droge, die man am Morgen einnehmen mußte, um zufrieden und stark auf beiden Beinen stehen zu können.
Wie banal, wie unwichtig war das alles geworden! Es las sich wie Nachrichten von einem anderen Stern.
»Sollen Sie mich jetzt zwangsweise ernähren, Worthlow?« fragte Dr. Volkmar, als der Butler in seiner weißen Uniform vor ihm stand.
»Darüber wurde nicht gesprochen, Sir. Außerdem bekäme Ihnen eine Diät gut. Sie haben neun Pfund über dem Idealgewicht, Sir.« Worthlow ging zu der Gartenbar und holte Mineralwasser und Eis heraus. »Auch das nicht, Sir?«
»Nein!« Volkmar richtete sich in seiner Gartenschaukel auf. »Worthlow, ich werde verrückt, wenn ich hier untätig herumsitze. Nicht heute – aber in zwei, drei Monaten! Ich komme hier ja nie wieder heraus.«
»Nicht auf diese Art, Sir«, sagte Worthlow mit britisch unterkühltem Ton.
»Was heißt das?«
»Ihre Chancen sind größer, wenn Sie als Arzt arbeiten.«
»Für die Ehrenwerte Gesellschaft?! Als Mafia-Arzt?! Worthlow!«
»Es ist mir nicht bekannt, Sir, daß die Zugehörigkeit zur Mafia einen umfassenden Gesundheitsschutz garantiert. Ich würde mich um diese kranken Menschen kümmern, Sir. Das Altersheim stellt die Ärzte immer wieder vor medizinische Probleme – wenn man Dr. Nardo hört. Allein neununddreißig Krebsfälle …«
»Sie werden alle im Haus behandelt?«
»Nein! Zur Operation kommen sie nach Neapel. Inoperable oder Pflegefälle werden in einen anderen Flügel des Hauses verlegt. Man nennt ihn ganz offen das Sterbeabteil. Dort pflegt man die Alten mit wirklicher Hingabe. Das Heim hat ja auch einen eigenen Pfarrer und eine Kapelle und einen Friedhof für die Alleingebliebenen. Wenn ein Chirurg wie Sie, Sir …«
»Halt, Worthlow!« Dr. Volkmar erhob sich aus der Gartenschaukel und trat an die Brüstung des Dachgartens. Das tiefblaue Meer schien greifbar nahe, ein gleißendes Flimmern lag über ihm. Die Sonne sog Wasser hinauf in die Unendlichkeit. »Sie nehmen biblisches Format an: Die Versuchung in der Wüste …«
»Sir, Sie vergessen, daß ich nicht der Satan bin und Sie nicht Jesus sind. Sie sind Arzt.« Hinter Volkmar klingelte das Eis im Glas. Worthlow war doch mit einer Erfrischung gekommen. Aber Volkmar drehte sich nicht um.
»Es wäre eine Kapitulation!« sagte er leise.
»Aber ein Segen für die Kranken, Sir. Ist es nicht gleichgültig, wo Sie Kranke behandeln?«
»Das Bewußtsein, für einen Mann zu arbeiten, der …«
»Sir, Sie sind tot!« sagte Worthlow steif. »Ein Toter darf keine Empfindungen mehr haben.«
An einem Freitagvormittag sah Anna den Mann, der Luigi aufgeschlitzt hatte.
Paolo Gallezzo war vom Festland herübergekommen und hatte seine Aufträge zur Zufriedenheit des Don erfüllt. Er hatte über ein neu eingerichtetes Importbüro für medizinische Einrichtungen Kontakt zu allen maßgebenden Lieferanten und Fabriken dieser Branche aufgenommen und auch einen jungen Kaufmann eingestellt, den er bei einer medizinischen Fachhandlung auf einfachste Art abgeworben hatte. Er hatte ihm das doppelte Gehalt geboten und eine Sekretärin bewilligt, die ein geschminktes Püppchen war und auf horizontales Arbeiten eingeschworen schien. »Damit du keine Langeweile hast, mein Lieber!« hatte Gallezzo gesagt. »Wir werden wenig von uns hören lassen. Aber wenn du etwas von uns hörst, mußt du schneller als der Schall sein! Ist das klar?«
In den folgenden Tagen überwachte er das Sortieren und Archivieren der eingehenden Prospekte und Angebote und reiste dann mit einer dicken Aktentasche voller Kataloge zurück nach Sizilien. In Rom blieben zwei verstörte junge Menschen zurück, die ein wunderschönes Gehalt dafür bekamen, Prospekte zu bewachen, anfragende Firmen hinzuhalten und mindestens jeden Tag einmal aufeinander zu liegen.
»Sehr gut«, sagte Dr. Soriano, als Gallezzo seine Aktentasche ausleerte. Die Prospekte sah er nicht an – sie waren als Spielzeug für Dr. Volkmar gedacht. Die Architekten, die in Tag- und Nachtschichten das große Kinderheim in den Bergen von Camporeale erbauen ließen, hatten längst mit den besten
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