Das Haus der verlorenen Kinder
ist so typisch Dorf, nicht wahr? Dazu kommt es, wenn die Leute so geheimniskrämerisch sind. Sie ist nach einer Weile verschwunden, und natürlich haben alle Kinder angefangen, davon zu reden, sie sei ermordet worden. Aber das wurde sie natürlich nicht. Sie wird wohl nach Portsmouth zurückgekehrt und bei einem Luftangriff oder so ums Leben gekommen sein.«
»Gott, ja, und sie haben immer noch davon geredet, als wir Kinder waren. Erinnert ihr euch? Deshalb sind wir immer schreiend davongelaufen, wenn die Blakemores ins Dorf gekommen sind. Wir waren schon ein Haufen kleiner Biester, nicht wahr? Wahrscheinlich hat das Kind seine Mum dazu gebracht, dass sie es abgeholt hat, oder?«
»Wie auch immer«, antwortet Mark.
»Ich bevorzuge die Mordtheorie«, stellt Penny fest. »Nichts sorgt so für den Zusammenhalt in einem Dorf wie ein gutes schauriges Gerücht. Was glaubt ihr, haben sie gemacht? Sie erschossen? Sie erwürgt und ihre Leiche im See versenkt?«
»Na, besten Dank«, meldet sich Bridget zu Wort. »Mir gefällt diese Theorie ebenfalls. Da fühle ich mich dort doch gleich so viel wohler!«
Alle lachen und wechseln das Thema.
»Und, was hat Sie eigentlich von London hierher geführt?«, erkundigt sich Penny.
Bridget wirft Mark einen Blick zu, aber seine Miene bleibt ausdruckslos. Tinas ebenfalls. Sie kann nicht erkennen, ob er es ihr erzählt hat. »Eigentlich Yasmin. Mir ist mit einem Mal klar geworden, dass London ein schrecklicher Ort ist, um ein Kind aufzuziehen, wenn man nicht reich ist.«
»Sie hatten also keine Verbindungen zu dieser Gegend hier?«
»Nein«, antwortet sie. »Leider«, fügt sie hinzu.
»Ich würde sagen, das ist gut so. Zu viele Leute sind hier miteinander verwandt. Die Hälfte der Familien ist irgendwie miteinander verschwägert. Und, was denken Sie? Glauben Sie, dass Sie eine Weile hierbleiben?«
Bridget nippt an ihrem Bier. Es ist warm und schal: echt traditionell. »Wissen Sie was?«, antwortet sie. »Ich glaube, das ist durchaus möglich.«
41
Carol läuft mit ihren Einkäufen von der Bushaltestelle nach Hause. Jetzt, da sie ein festes Einkommen und jede Menge Hotelübernachtungen in Aussicht hat, fühlt sie sich berechtigt, ein wenig Geld zu verprassen: teure Nachtcremes, um ihre Haut vor der trockenen Luft in den Flugzeugkabinen zu schützen, zwei Paar wirklich gute, ordentliche Pumps, mit Fußbett, die groß genug sind, dass es nichts ausmacht, wenn ihre Füße bei Langstreckenflügen anschwellen. Ein fantastisches Make-up und Haarspray, der extra langen Halt verspricht. Bügelfreie Sommersachen für die Florida-Schicht, jetzt in der Endphase des Schlussverkaufs besonders billig. Warme Pelzstiefel für die New-York-Strecke, obwohl sie weiß, dass sie diese bei Barney’s wahrscheinlich billiger bekommen hätte.
Sie hat das seltsame Gefühl, als sei Weihnachten, obwohl das Fest längst vorüber ist. Ihr drängt sich der Eindruck auf, ihr Leben, das nun so lange stillstand, würde nun endlich wieder weitergehen. Sie hat den Auffrischungskurs absolviert, hat gelernt, einen Terroristen zu erkennen, sich erinnert, wie man bei einem Rentner, der in Ohnmacht gefallen ist, Mund-zu-Mund-Beatmung macht, und morgen wird sie ihre Wohnungstür abschließen und das Rumpeln der Räder ihres Reisetrolleys auf dem Pflaster hören. Dieses Geräusch hatte sie schon ganz vergessen: All die damit verbundenen Verheißungen.
Der Verkehr auf der Streatham High Road ist dermaßen dicht, dass sie ihr Handy fast nicht hört, das in der Tiefe ihrer Tasche läutet. Ich muss daran denken, mir jetzt, da ich es mir leisten kann, eine Roaming Karte zu besorgen, überlegt sie, während sie im Sicherheitsfach herumkramt. Vielleicht nächsten Monat. Sobald mein erster Gehaltsscheck eingegangen ist.
Das Handy bimmelt noch immer, als sie es endlich zu fassen kriegt, und der Klingelton dröhnt laut in die abendliche Luft. »Hallo?«
»Hallo, ich bin’s.«
»He, wie lustig. Deine Nummer ist auf meinem Display gar nicht erschienen.«
»Nein. Das ist der Grund, warum ich anrufe. Ich habe endlich ein neues Telefon.«
»Tatsächlich? Klasse! Gut gemacht.«
»Möchtest du die Nummer haben?«
»Ich bin gerade unterwegs«, antwortet sie, »und ich habe die Hände voll. Kannst du mir eine SMS schicken?«
»Klar. Du könntest sie aber natürlich auch der Anrufliste entnehmen.«
»Du weißt, wie ich mich mit Technologie anstelle«, sagt Carol.
»Okay.«
»Und, wie geht es so? Hattest du weitere
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