Das Haus der verlorenen Kinder
Pub.«
»Wenn du dir sicher bist …«
»Ich bin mir über gar nichts mehr sicher, seit Jeffrey Archer im Knast gelandet ist. Aber es könnte nett werden. Wenn man es nicht ausprobiert, findet man es nie heraus.«
»Ach. Ja dann, okay.«
Kaum ist sie in ihrem Zimmer, da wird sie von panischer Angst vor jeglicher Art von Geselligkeit ergriffen. Sie ertappt sich dabei, dass sie etwas macht, was sie nicht mehr getan hat, seit sie Anfang zwanzig war: Sie hat den ganzen Inhalt ihrer Schubladen auf den Boden geleert und kramt verzweifelt alles durch. Ich hab nichts anzuziehen. Ehrlich, ich hab nichts. Die einzigen Sachen, die halbwegs festlich sind, stammen aus der Zeit vor Yasmins Geburt, als sie noch Kleidergröße 42 hatte, einen flachen Bauch und Brüste, die noch an der richtigen Stelle saßen, und diese kitschigen Glitzersachen hier werden sich bestimmt nicht auf die üppige Größe 44 dehnen lassen, die die Mutterschaft und das Unglück ihr gemeinsam aufgezwungen haben. In ein paar der Tops könnte sie sich wohl hineinzwängen, aber sie wären so eng, dass sie in einem Pub auf dem Lande wie eine Schlampe wirken würde.
Verzweifelt hebt sie die Teile hoch, schaut sie an, legt sie zurück. Alles, was aus der Kieran-Zeit stammt, ist weit, dunkelfarbig, jene Art von Kleidung, mit der man so wenig Raum wie möglich einnimmt, jene Art von Kleidern, mit denen man sich in Ecken verkriecht und versucht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Mein Gott, was hatte ich früher für Kleider: die bauchfreien Tops und Miniröcke, die paillettenbesetzten Sachen und die tiefen Ausschnitte. Die Schuhe, die für jede Frau untragbar waren, es sei denn, sie fuhr überall mit dem Taxi hin. Damals habe ich wirklich geglaubt, ich würde gut aussehen. Nein, ich habe gut ausgesehen. Ich sah aus wie eine zuversichtliche, erfolgreiche Londonerin; wie die junge Frau, die ein Ziel vor Augen hatte. Ja, damals sah ich aus wie der Mensch, der ich auch war.
Ich vermute, ich sehe noch immer aus wie der Mensch, der ich bin. Die Kleider aus der Zeit, nachdem ich Kieran kennengelernt habe, sind nichts anderes als praktisch: Jeans und Oberteile, die sich leicht waschen lassen und auf denen Flecken nicht auffallen. Kleider, die in der Kleiderkammer der Wohlfahrt gekauft wurden, damit Geld für Yasmin übrig blieb: Kleider, die zu erkennen geben, dass ich nicht erwarte, angeschaut zu werden und auch nicht angeschaut werden möchte.
Wieso ist mir das bisher nicht aufgefallen? Wie kommt es, dass ich nicht bemerkt habe, was ich da mache, als ich die Kleiderständer beim Roten Kreuz durchgesehen und mir die malvenfarbigen Sachen für dicke Frauen und jene im Igno-rier-mich-Blau ausgewählt habe? Wann habe ich eigentlich aufgegeben? Wann habe ich beschlossen, dass es am besten sei, wenn niemand mich ansieht? Die ganze Zeit habe ich neben Carol gewohnt, mit ihren superbilligen, aber immer modischen Kleidern und stets gestylten Haaren, und habe trotzdem den Kontrast nicht bemerkt, wenn wir an einem spiegelnden Schaufenster vorbeigegangen sind. Ich habe den Kontrast zu ihr natürlich schon festgestellt, aber ich habe nie den Kontrast zu meinem früheren Aussehen registriert. Wie blind hat er mich gemacht? Wie blind habe ich mich selbst gemacht?
Na ja, ich kann Jeans anziehen. Viele Alternativen habe ich sowieso nicht. Entweder Jeans oder eine der drei schwarzen Stretchhosen mit dem dehnbaren Bund, die Sporthosen so ähnlich wie nur möglich kommen, ohne allerdings einen weißen Streifen an der Seite zu haben. Sie wählt die neueste Hose, die mit den wenigsten Flecken und dem tiefsten Bund. Hoffentlich sehen der abgewetzte Stoff an den Knien und der Riss am Oberschenkel gewollt aus und werden als Modestatement aufgefasst statt als Zeichen der Armut. In einer Ecke der Schublade entdeckt sie eine dunkelrote hüftlange Tunika aus bestickter Viskose, die Carol ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hat und an der noch immer die Etiketten hängen. Der V-Ausschnitt ist sehr tief und lässt einiges vom Dekolleté sehen, was der Grund ist, warum sie damals nicht wagte, sie anzuziehen. Jetzt schaut sie sie an und stellt fest, dass Carol gut gewählt hat. Das ist ein ideales Kleidungsstück, um das Selbstwertgefühl zu heben; es kaschiert alle möglichen Problemzonen und besitzt den entscheidenden Vorteil, dass es nicht zu aufgetakelt aussieht.
Sie dankt Carol, wo immer sie auch gerade sein mag, und zieht sich die Tunika über. Es bleibt ihr keine Zeit, sie zu bügeln. Sie
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