Das Haus der verlorenen Kinder
Tante geerbt hat.
»Meneglos 34.«
»Holen Sie sie ab! Holen Sie sie umgehend ab!«
Die Stimme, die einer Frau, ist aufgrund ihrer Lautstärke verzerrt. Sie braucht einen Moment, bis ihr klar wird, was die laute Anruferin da sagt.
»Hallo? Entschuldigen Sie?«
»Ich möchte, dass sie verschwindet! Jetzt sofort! Hören Sie mich? Kommen Sie einfach und holen Sie sie ab!«
»Wer ist denn am Apparat?«
Es folgt ein kurzes Schweigen, als wäre ihre Gesprächspartnerin verdutzt, dass sie nicht erkannt wurde. »Felicity Blakemore, Sie Dummkopf! Was haben Sie denn gedacht?«
»Schönen Nachmittag, Mrs Blakemore«, sagt Margaret Peachment gelassen. Noch sechzehn Stunden, dann wird sie sich nie mehr mit dieser Frau und ihrem herablassenden Umgang mit ihren Nachbarn befassen müssen. Und weitere vierundzwanzig Stunden, dann wird sie von Liverpool ablegen, ihr Schrankkoffer wird verstaut sein, und ein ganz neues Leben wird vor ihr liegen. »Haben Sie irgendein Problem?«
»Ich möchte, dass Sie umgehend hierher kommen und dieses dreckige Gör abholen! Ich möchte sie keinen Augenblick länger in meinem Haus haben!«
»Von wem sprechen Sie, Mrs Blakemore?«
Sie weiß das ganz genau. Auf Rospetroc ist nur noch eine einzige Evakuierte übrig. Sie bedauert es zutiefst, dass sie sich nicht die Zeit genommen hat, ein halbes Dutzend neuer Flüchtlinge dort unterzubringen, bevor sie morgen die Zügel an die Koordinatorin in St. Austell übergibt. Das wäre eine schöne Rache gewesen.
»Sie wissen genau, von wem ich rede!«
»Hm …«, sagt sie, klingt bewusst vage und zerstreut, und genießt die Wut, die durch die Leitung zu spüren ist. »Ich habe so viele Leute in meiner Obhut, Mrs Blakemore, nicht nur Sie, tut mir leid. Sie werden mir schon auf die Sprünge helfen müssen.«
Ein frustriertes Luftschnappen. Mrs Peachment gelingt es nicht, sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Dreht an der Perlenkette im Ausschnitt ihrer Bluse.
»Lily – Rickett.«
»Lily … Lily … lassen Sie mich nachsehen … Ach, ja, ich erinnere mich. Und, wie geht es Lily?«
Die Stimme schwillt zu einem Kreischen an. »SIE … IST … VON … DER … SCHULE … VERWIESEN …WORDEN! Ich kann sie hier keinen Augenblick länger ertragen! Seit Ende der Sommerferien war sie die reinste Nervensäge, nichts als Unverschämtheit und Missmutigkeit. Sie hat Hughie einen Kaminbock an den Kopf geworfen und ihm beinahe den Schädel eingeschlagen. Zwei Mal hat sie meine Tochter geohrfeigt. Ich bekomme nichts als Widerworte und Aufmüpfigkeit, so sehr, dass selbst einem Heiligen der Geduldsfaden reißen würde, und jetzt wird sie sogar der Schule verwiesen. Mrs Peachment, sie hat die Schule in Brand gesteckt. Ich kann sie keinen Augenblick länger hierbehalten. Ich werde ja nicht einmal mehr in meinem eigenen Bett ruhig schlafen können!«
»Die Schule in Brand gesteckt?«
»Ja! Heute Nachmittag!«
Ich bin doch erst vor einer Stunde an der Schule vorbeigekommen. Ich habe nirgends etwas von einem Feuer bemerkt. »Sind Sie sicher?«
»Sind Sie blöd? Natürlich bin ich mir sicher.«
»Nun, das ist kein Grund, einen solchen Tonfall anzuschlagen!«, erwidert sie.
»Ich habe jeden Grund, diesen Tonfall anzuschlagen! Sie werden das Chaos beseitigen, das Sie angerichtet haben, Mrs Peachment, sonst … sonst …«
»Sonst was?« Sie schafft es nicht, den Spott aus ihrer Stimme herauszuhalten.
»Ich werde … die übergeordneten Behörden … Ihre Vorgesetzten … Sie Sind nicht so bedeutend, wie Sie glauben, Mrs Peachment.«
Jetzt ist sie an der Reihe, nach Luft zu schnappen. »Nun, ich habe nie …«
»Ich weiß alles über Leute wie Sie«, fährt Felicity Blakemore fort. »Sie blasen sich wichtig auf. Nutzen diesen Krieg, um ihre erbärmlichen Machtfantasien auszuleben. Na schön, bei mir funktioniert das nicht. Hören Sie mich?«
In Mrs Peachments Kopf nimmt ein Gedanke Gestalt an. Keiner wagt es, so mit mir zu sprechen, denkt sie. Ich habe mir für dieses Dorf die Finger blutig gearbeitet, und sie kann nicht in diesem Tonfall mit mir reden. Der werde ich die Suppe gründlich versalzen! Von der Mutter des Kindes hat man nichts mehr gehört, seit sie – seit sie es am Bahnhof von Portsmouth abgegeben hat. Frauen wie diese verschwinden häufig bei der erstbesten Gelegenheit. Sie wird nicht so bald nach Hause zurückkehren.
»Na ja, das ist nicht so einfach, wie Sie allem Anschein nach meinen«, antwortet sie. »Ich kann ein Kind nicht so überstürzt
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