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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unseres Hierseins kommen. Täusche ich mich, oder ist dieser ganze Streit in Anbetracht unseres heutigen Triumphs nicht ein wenig … lächerlich?«
    Estacado erkannte seine Chance. »Ein Triumph, in der Tat.« Er nahm das Holzkästchen mit beiden Händen vom Tisch und hob es in einer theatralischen Geste den Anwesenden entgegen. Anschließend setzte er es wieder neben der Schale ab. »Wir sollten fortfahren, denke ich.«
    Sein Bruder, der Kardinalsbibliothekar, stimmte zu. »Das sollten wir.«
    Auch einige der anderen Männer nickten, und Jupiter sah, daß sich ein zufriedenes Lächeln in die Züge des Professors stahl. Zum ersten Mal hatte er den Eindruck, daß der alte Mann im Rollstuhl unter den Adepten einen höheren Rang innehatte, als es auf den ersten Blick erscheinen mochte.
    Janus erriet Jupiters Gedanken. »Von Thaden mag laut sein, und Landini verschlagen«, flüsterte er, »aber Trojan versteht es, im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Solange er Estacado unterstützt, bleibt dessen Stellung unangefochten.«
    »Wissen Sie, was das ist?« flüsterte Coralina, als Estacado beide Hände an den Deckel des Kästchens legte und ihn langsam nach oben klappte.
    Janus schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder ganz auf das Geschehen unten in der Halle.
    Andächtige Sülle senkte sich über die Versammlung der Adepten.
    Estacado griff vorsichtig in das Kästchen und holte mit Daumen und Zeigefinger etwas hervor.
    Coralina erstarrte. »Nein!«
    Jupiter verspürte einen schmerzhaften Stich und drückte ihre Hand noch heftiger.
    Sogar Janus hielt für einen Moment den Atem an.
    Vom Schacht aus war der Gegenstand in Estacados Hand nur klein und undeutlich zu erkennen. Und doch war klar, daß es sich um die Scherbe handelte.
    Die Scherbe, die eigentlich bei der Shuvani in der Klinik hätte sein sollen. Die Scherbe, die sie niemals freiwillig herausgegeben hätte.
    »Sie ist tot«, brachte Coralina tonlos hervor.
    Jupiter wollte widersprechen, sie beruhigen, irgend etwas sagen, das sie trösten würde, aber schon der Versuch erschien ihm zynisch. Er ahnte, daß Coralina recht hatte. Die Adepten mußten das Telefongespräch abgehört, die Shuvani ermordet und die Scherbe an sich gebracht haben.
    Tränen bahnten sich einen hellen Weg durch den Staub auf Coralinas Wangen, aber ihr Gesichtsausdruck blieb ohne eine Regung. Sie machte auch Janus keinen Vorwurf, starrte nur in die Tiefe, hinab auf die zwölf Männer und das Allerheiligste in ihrer Mitte.
    Estacado legte die Scherbe in die Lücke im Gefüge der Schale. Sie paßte haargenau. Die Spirale der Hieroglyphen vervollständigte sich, und mit ihr … unsichtbar für die drei Beobachter unter der Hallendecke … die eingekratzte Inschrift zwischen den Symbolen.
    »Wie lange wird es dauern, den Text zu dechiffrieren?« fragte von Thaden.
    Estacado lächelte zufrieden. »Ein paar Stunden. Morgen früh kennen wir den genauen Standort des zweiten Tors und können mit den Grabungen beginnen.«
    Von Thaden nickte. »Ich werde dafür sorgen, daß alles Nötige veranlaßt wird.«
    Einige der Männer hatten sich von ihren Plätzen erhoben und beugten sich vor, um einen besseren Blick auf die Schale zu haben. Zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahrhunderten war das Artefakt wieder vollständig.
    Jupiter spürte, daß die Aufregung der Männer ihn ansteckte. Den Code hatte man anhand der fünf anderen Scherben vermutlich längst entschlüsselt … nur der eine wichtige Hinweis hatte noch gefehlt, jener Teil der Beschreibung, den nur Piranesi kannte. Doch heute nacht würde das Rätsel endlich gelöst werden.
    Er legte einen Arm um Coralina und zog sie langsam vom Gitter fort. Janus warf noch einen letzten Blick hinunter in die Halle und folgte ihnen dann.
    Coralina blickte Jupiter fragend an. »Wir hätten ihr nicht helfen können, oder?«
    »Nein.«
    »Wir … wir wollten doch, daß sie mitkommt.«
    »Sie hat ihre Entscheidung getroffen.«
    Coralina schluckte. »Wir hätten sie überreden müssen.«
    »Vielleicht ist ihr gar nichts passiert«, sagte er leise. »Du hast Estacado gehört.«
    »Sie hätte ihnen die Scherbe nie freiwillig gegeben.«
    »Am Telefon klang es, als sei sie vernünftig geworden. Es hat ihr leid getan, daß sie die Scherbe vertauscht hat.«
    Während des Rückweges durch die Luftschächte sagte Coralina kein Wort mehr, ließ auch nicht zu, daß Jupiter sie in den Arm nahm. Vor allem aber hielt sie sich von Janus fern. Einmal machte der Geistliche den

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