Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
straffte. Einen Augenblick später tauchte er auf, schlug einen Moment lang panisch um sich und schien sich unter Kontrolle zu bekommen. Dann aber erschlaffte er abrupt, als das Seil um seine Brust ihm die Luft abschnürte.
    Zugleich erschienen weitere Gestalten auf dem schmalen Mauersims, der unten entlang der Wasseroberfläche verlief. Coralina sah, wie zwei Männer Jupiter packten und ins Trockene zogen.
    Für Janus kam jede Hilfe zu spät. Er tauchte nicht wieder auf. Coralina mußte unwillkürlich an das denken, was er gesagt hatte, als er sie zum ersten Mal hier heruntergeführt hatte. Daß die Leichen in die Rohre hinaufgesaugt wurden, wo sie irgendwo steckenblieben und verrotteten.
    Sie hatte ihn nicht gemocht, und sie gab ihm noch immer zumindest einen Teil der Schuld an dem, was der Shuvani zugestoßen war. Doch ungeachtet dessen traf sein Tod sie zutiefst. Er hatte nicht hierherkommen wollen, hatte ihnen abgeraten, diesen Weg zu nehmen. Trotzdem hatte er ihnen geholfen. Und nun war er tot.
    Ihr Blick hing an dem reglosen Jupiter, und Landini mußte ihren Namen zweimal brüllen, bis sie ihn endlich wahrnahm. Langsam und von einer gefährlichen Ruhe erfaßt, schaute sie hinüber zum Gittersteg.
    »Sie hätten das nicht tun sollen!« rief der Albino ihr zu. Sein Gesicht schimmerte im Licht einer Taschenlampe. »Sie hätten auf mich hören sollen.«
    Sie erwog, zu antworten, doch dann beließ sie es bei einem haßerfüllten Blick in Richtung der Adepten. Sie sah, daß Jupiter sich bewegte, nur einen Arm, wie im Halbschlaf, aber das bewies zumindest, daß er lebte. Sie wollte bei ihm sein, ganz gleich, was Landini mit ihnen vorhatte. Wollte an seiner Seite sein, seine Hand halten, in sein Gesicht schauen, wenn er wieder zu sich kam.
    Landinis Männer durchtrennten das Seil. Wie eine Luftschlange wirbelte das andere Ende in die Tiefe und zuckte wild, als es von einem Strudel erfaßt wurde und zitternd an dem Wurfanker zu Coralinas Füßen zerrte.
    Der Weg zurück war endgültig abgeschnitten. Sie konnte nur dem Tunnel folgen, tiefer ins Dunkel, um hoffentlich irgendwann auf den Aufstieg in die Kanalisation zu stoßen.
    Sie hatten verloren, das war sicher. Die Adepten hatten die Scherbe, sie hatten Jupiter, und Janus lebte nicht mehr. Wie lange würde es dauern, bis ihnen auch die Kupferplatte in die Hände fiel? Sie konnte sich jetzt nur noch auf die Nonnen im Konvent stützen, und wie lange mochte es schon dauern, bis der Bund auch hinter dieses Geheimnis kam? Vielleicht würden sie Jupiter foltern, bis er ihnen die Wahrheit erzählte. Coralina hätte ihm deswegen gewiß keinen Vorwurf gemacht … sie selbst hätte den Adepten das Versteck der verdammten Scherbe verraten, nur um endlich von dieser Last befreit zu sein, ganz gleich, was danach mit ihr geschah. Sie hatten so gründlich versagt, wie es nur möglich war. Sie hatten alles aufs Spiel gesetzt, sogar das Leben anderer, und sie hatten alles verloren.
    Sie warf Landini einen letzten Blick zu und vergewisserte sich, daß die Männer Jupiter aus der Grotte trugen, hinaus ins Labyrinth der Schächte und Stollen.
    Dann drehte sie sich um, achtete nicht auf die Drohung, die der Albino ihr hinterherrief, ging einfach los, folgte dem Lichtschein ihrer Lampe, neben sich den tobenden Strom des Wassers und vor sich nichts als Dunkelheit, kalt wie der Tod in einer Winternacht.

KAPITEL 10

Offenbarungen
    Die Oberwelt empfing sie mit der rasselnden Hektik einer Stadt, die allmählich aus dem Schlaf erwachte. Im Osten hatte der Himmel die Färbung von korrodiertem Blattgold angenommen; in einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen. Ein blasser Schimmer lag um die Kanten der Häuser, um die Kuppeln und Türme und Dachterrassen. Das erste Autohupen drang durch die Dämmerung, das Röhren der Vespas, das ferne Schreien eines Kleinkinds hinter einem offenen Fenster.
    Coralina mußte aus keinem Kanaldeckel klettern oder ihre Hände durch Abflußgitter schieben, damit irgendwer auf sie aufmerksam wurde. Sie ging einfach eine schmale Treppe hinauf, die von dem breiten Kanal, dem sie die vergangenen zwanzig Minuten gefolgt war, abzweigte und dann dem Dämmerlicht entgegen, das sie erst für eine Täuschung hielt, eine weitere falsche Hoffnung, eine List der Adepten.
    Sie gelangte an eine Gittertür, die nur mit einem festen Draht gesichert war. Sie brach sich zwei Fingernägel bei dem Versuch ab, ihn zu öffnen, doch schließlich gelang es ihr. Ein Nagelbett blutete, aber

Weitere Kostenlose Bücher