Das Haus des Daedalus
Stück an der Wand würde hinaufklettern müssen als sie. Die Aussicht darauf machte ihn noch verzweifelter. Er hatte jetzt das sichere Gefühl, daß er es nicht schaffen würde, daß der Wurfanker abrutschen oder das Seil reißen würde.
Kälte kroch an seinem Körper herauf, so als baumelten seine Füße bereits im eiskalten Wasser. Irgendwann hörte er auf, seine Beine zu spüren, und der erneute Anflug von Panik, der dabei in ihm aufstieg, verleitete ihn zu einem furchtbaren Fehler.
Atemlos blickte er an sich hinab in die Tiefe.
Er sah die strudelnden Fluten unter sich, sah die aufschäumende Gischt, die Dunkelheit des Wassers, die das Reservoir schier bodenlos erscheinen ließ … ein unterirdischer See, der hinabreichte ins Innere der Erde, tiefer und tiefer und tiefer.
Von einem Herzschlag zum nächsten konnte er sich nicht mehr bewegen. Er war wie gelähmt. Hing stocksteif am Seil, beide Hände zu Schraubzwingen erstarrt, unfähig, sich zu bewegen, reglos und kalt und starr vor Angst.
Hinter ihm ertönte Janus’ Stimme, dumpfe Silben hinter dem Dröhnen des prasselnden Wassers, und es dauerte einen Moment, ehe Jupiters erlahmte Wahrnehmung die Worte entschlüsseln konnte.
»Sie kommen!« rief Janus, jetzt schon zum zweiten Mal, und wieder brauchte Jupiter ein, zwei Sekunden, ehe er erkannte, was das zu bedeuten hatte.
Die Adepten der Schale waren auf dem Weg hierher! So nah, daß Janus sie bereits hören konnte!
Unendlich langsam gelang es ihm, den Kopf zu heben. Coralina stand in der Öffnung des Aquädukts und winkte ihm aufgeregt zu. Ihr Mund öffnete und schloß sich, aber Jupiter verstand nicht, was sie sagte. Sie hatte Angst um ihn. Schreckliche Angst.
Seine Muskulatur fühlte sich versteinert an. Als er versuchte, einen Blick über seine Schulter zu werfen, hatte er das Gefühl, sein Kopf müsse abbrechen wie ein steifgefrorener Ast, einfach abfallen und tief unter ihm im Wasser versinken.
Dennoch gelang es ihm, einen verschwommenen Blick auf Janus zu erhaschen. Der Geistliche war dabei, das Ende von Jupiters Sicherungsseil mit hektischen Bewegungen an eines der Rohre zu knoten.
Dabei schaute er immer wieder rasch zum Eingang hinüber. Lichtkegel von Taschenlampen huschten über die Korridorwand.
Selbst durch den Schleier seines betäubten Empfindens erkannte er, was Janus vorhatte. Der Priester hatte keine andere Wahl, als ebenfalls die Flucht zu ergreifen. Und es gab nur einen einzigen Weg.
»Nicht!« keuchte Jupiter. »Das Seil …«
Aber er verstummte, als ein heftiger Ruck durch das Seil lief und er abrupt ins Schaukeln geriet. Janus hatte sich vom Steg abgestoßen und hing nun genau wie Jupiter an beiden Händen über dem Abgrund.
»Weiter!« stöhnte der Geistliche kraftlos. »Machen … Sie … schon!«
Etwas klickte in Jupiter. Es war, als würde ein Sicherungsschalter in ihm umgelegt. Erneut begann er sich vorwärtszuschieben, schneller jetzt, mit neuer Kraft, obwohl das Seil wie wild schaukelte, weil sich auch Janus daran entlang hangelte.
Coralina beugte sich weit vor und versuchte, das Seil mit beiden Händen ruhig zu halten. Ohne Erfolg. Es schwang weiterhin nach rechts und links, wippte auf und ab und schüttelte die beiden Männer, die hilflos daran hingen.
Jupiter sah, daß sie ihm abermals etwas zurief, ihn anspornte. Ihr Gesicht war rot angelaufen vor Erregung, und Wut über ihre Hilflosigkeit sprach aus ihrer Miene. Sie konnte nichts tun, nur dastehen und zuschauen, wie Jupiter und Janus um ihr Leben kämpften.
Noch drei Meter.
Vor sich sah Jupiter die tosende Flut des Wasserfalls. Seine Füße befanden sich einen guten halben Meter tiefer als die von Coralina, und durch das Schwingen des Seils war er in weit größerer Gefahr, von der Sturzflut erfaßt zu werden. Aber er mußte es schaffen, mußte durchhalten, den Schmerz in seinen Händen ertragen, als das Seil immer tiefer in seine Haut schnitt. Zugleich versuchte er, die Beine ein wenig anzuwinkeln, um den Wassermassen auszuweichen.
Plötzlich schrie Janus: »Ich kann … nicht mehr …«
Das Seil federte plötzlich nach oben, hüpfte hoch und runter wie ein Gummiband, und als Jupiter sich schließlich umschaute, war niemand mehr hinter ihm.
»Nein!«
Er blickte nach unten und sah noch, wie Janus vom Ausläufer eines Strudels ergriffen wurde und sich mit erhobenen Armen um sich selbst drehte, immer schneller, wie ein lebender Kreisel, und dabei panische Schreie ausstieß, während ihm Wasser in Mund und
Weitere Kostenlose Bücher