Das Haus des Daedalus
sie schenkte dem Schmerz keine Beachtung.
Die Gittertür führte durch einen niedrigen Bogen hinaus auf einen der gepflasterten Streifen, die sich zu beiden Seiten des Tibers erstreckten. Links von ihr wuchs die Ufermauer empor, dahinter hörte sie den Lärm der Autos, der Vespas, das Schreien des Kindes. Dies war die Welt, die sie kannte. Sie war zurück. Sie lebte. Und sie scherte sich einen Dreck darum.
Sie dachte nur an Jupiter, an seinen Gesichtsausdruck, als er sich in die Tiefe stürzte, um Janus zu retten. Daran, daß alles umsonst gewesen war. All die Toten, sogar Jupiters Opfer. Jetzt war er ein Gefangener der Adepten, und Janus war tot.
Mühsam schleppte sie sich die Treppe zur Straße hinauf. Sie fühlte sich verloren und allein gelassen. An wen konnte sie sich wenden? Wer würde ihr helfen? Sie hätte zur Polizei gehen können, aber sie bezweifelte, daß man ihr glauben würde. Sie hatte keine Beweise, und sie hätte zugeben müssen, daß die Ursache des Ganzen ein Diebstahl war, den sie selbst begangen hatte. Zudem fürchtete sie, daß die Adepten Verbindungen zu den Behörden unterhielten. Sie traute niemandem mehr. Selbst die Shuvani hatte sie hintergangen, als sie die Scherbe ausgetauscht hatte.
Die Shuvani …
Als erstes mußte Coralina herausfinden, was aus ihr geworden war. Aber sie wußte nicht einmal, in welches Krankenhaus die alte Frau eingeliefert worden war.
An der Piazza Cinque Giornate entdeckte sie eine Telefonzelle; in dem zerfledderten Telefonbuch fand sie eine Liste aller römischen Kliniken. Sie hatte noch immer ihr Portemonnaie einstecken, und so kaufte sie an einem Kiosk von ihrem letzten Geld eine Telefonkarte und machte sich daran, die Nummern der einzelnen Krankenhäuser zu wählen. Niemand kannte den Namen der Shuvani, nirgends wußte man etwas über ihre Aufnahme. Coralina wurde bei jedem Gespräch verzweifelter, und schließlich mußte sie sich eingestehen, daß ihre Versuche zwecklos waren. Die Adepten hatten die Klinik ausgewählt, in die man die Shuvani gebracht hatte, und sie hatten gewiß dafür gesorgt, daß ihr Name auf keiner Patientenliste auftauchte. Selbst die Tatsache, daß Janus herausgefunden hatte, wo sie war, mußte von Estacado gesteuert worden sein, um das Gespräch zwischen ihr und Coralina abzuhören. Die Adepten waren ihnen die ganze Zeit über einen Schritt voraus gewesen.
Die Liste der Krankenhäuser verschwamm vor ihren Augen, als sie abermals ihre Tränen niederkämpfte. Wütend schlug sie das Telefonbuch zu und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Glasscheibe. Ein alter Mann mit Mantel und Aktentasche warf ihr von außen einen verwunderten Blick zu, verharrte einen Moment, zog es dann aber vor, weiterzugehen. Coralina blickte ihm nach und zugleich durch ihn hindurch.
Beobachtete man sie gerade? Kannte Landini den Ausgang der Kanalisation? Hatten seine Leute sie bereits erwartet und folgten ihr nun unauffällig bis zu einem Ort, wo niemandem auffallen würde, wenn man sie packte und verschleppte?
Sie wehrte sich gegen solche Gedanken, aber es gelang ihr nicht völlig, sie zu unterdrücken. Trotzdem sagte sie sich, daß die Adepten bereits hatten, was sie wollten. Jupiter würde ihnen keine anderen Informationen geben können als Coralina, noch dazu war er geschwächt von seinem Überlebenskampf im Wasser. Es sollte Landini nicht schwerfallen, alles aus ihm herauszubekommen.
Und dann? Würden sie ihn töten?
Natürlich würden sie das. Sinnlos, sich etwas vorzumachen. Jupiters einzige Chance war, das Geheimnis so lange wie möglich zu wahren und zu hoffen, daß sich ihm in der Zwischenzeit eine Möglichkeit zur Flucht bot. Vielleicht verließ er sich darauf, daß Coralina einen Weg finden würde, ihn zu retten. Aber was konnte sie denn tun? Sie war allein, erschöpft, und die bestbewachte Grenze Italiens trennte sie voneinander.
Mach schon, sagte sie sich, nimm dich zusammen! Tu irgendwas !
Ihre Gedanken rasten, rekapitulierten Jupiters Sturz in die Tiefe, seinen Aufschlag auf dem Wasser, Bilder wie in einer Endlosschleife, ein Strudel, in dessen Zentrum Jupiters Gesicht in schwarzem Wasser versank, dann wieder auftauchte und den Mund öffnete, als wollte er ihr etwas zurufen: Mach weiter! Gib nicht auf! Wir kriegen die Scheißkerle!
Sicher doch, natürlich .
Entschlossen blinzelte sie den Tränenschleier fort und schlug mit zitternden Fingern erneut das Telefonbuch auf. Sie fand Fabios Nummer und tippte sie viel zu hastig ein,
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