Das Haus des Daedalus
hatte keinerlei Übung in solchen Kletterpartien. War er kräftig genug, acht Meter auf diese Weise zu bewältigen?
Coralina machte ihre Sache erstaunlich gut. Bald schon hatte sie mehr als die Hälfte der Strecke überwunden, und noch immer zeigte sie keine Ermüdungserscheinung.
Jupiter und Janus sprachen kein Wort, blickten nur gebannt auf die Frau über dem Abgrund. Sie hielten das Ende des Sicherungsseils fest umklammert, um sofort reagieren zu können, falls Coralina den Halt verlor. Aber noch wies nichts darauf hin, daß dieser Fall eintreten würde. Schon früher hatte Jupiter Coralinas Kraft und katzenhafte Gewandtheit bemerkt, doch nun überraschte sie ihn wirklich.
Das letzte Stück war das gefährlichste. Auf den beiden letzten Metern führte das Seil gefährlich nah an dem künstlichen Wasserfall vorbei. Falls Coralina jetzt ins Schwingen geriet und dabei von der nahen Sturzflut erwischt wurde, würden die Wassermassen sie mit sich reißen.
Doch Coralina entging der Gefahr mit Bravour. Wenig später erreichte sie die Mauer unter dem äußersten Rand der Öffnung. Hier erwartete sie eine letzte Schwierigkeit: Da sich der Wurfanker im Boden des Simses verhakt hatte, mußte sie etwa anderthalb Meter an der nackten Wand hinaufklettern, um ihn zu erreichen. Scharf zeichneten sich die Sehnen an ihren Unterarmen ab, als sie sich an dem Seil nach oben zog, während ihre Fußspitzen flink nach den tiefsten Fugen tasteten.
Als Jupiter sah, mit welcher Leichtigkeit Coralina auch dieses Hindernis bewältigte, vergaß er vor Staunen beinahe seine Angst um sie. Je länger er allerdings auch mitansah, welches Geschick nötig war, um die Öffnung zu erreichen, desto größer wurden seine Zweifel an sich selbst. Er konnte immer weniger glauben, daß tatsächlich er selbst diesen Fluchtweg vorgeschlagen hatte.
Schließlich war Coralina in Sicherheit. Einen Moment lang verharrte sie sitzend auf dem Rand des Simses und atmete einige Male tief durch. Dann erhob sie sich und lächelte den beiden ein wenig gezwungen über den Abgrund hinweg zu, bevor sie Janus’ Taschenlampe von ihrem Gürtel löste. Sie machte einige Schritte ins Dunkel, kehrte aber bald schon zurück an die Kante und zuckte mit den Achseln.
»Scheint in Ordnung zu sein!« rief sie. »Jetzt bist du dran, Jupiter!« Ihre Worte waren über das Dröhnen des Wasserfalls hinweg kaum zu verstehen; Jupiter erriet sie mehr, als daß er sie hörte.
Janus klopfte ihm auf die Schulter. »Sie schaffen das schon! Wenn Sie drüben ankommen, folgen Sie einfach dem Tunnel. Nach ein paar hundert Metern finden Sie in der rechten Wand einen Schacht, der nach oben führt. Klettern Sie die Leiter hinauf. Sie endet in einem Teil der städtischen Kanalisation. Dort sollten Sie keine Schwierigkeit haben, einen Ausstieg zu finden.« Er zog prüfend an dem Knoten um Jupiters Brust. »Vor zwei Jahren bin ich mit ein paar anderen einmal den umgekehrten Weg gegangen. Von der Straße aus sind wir hinuntergeklettert und bis dorthin gekommen, wo Ihre Freundin jetzt steht. Aber der Abgrund hat bislang jeden davon abgehalten, diesen Weg zu nehmen.«
Jupiter warf einen kurzen Blick auf die aufgewühlte Wasseroberfläche. »Kann ich verstehen.«
Janus hob die Hand und gab Coralina ein Signal. »Ihr Freund kommt jetzt rüber!« rief er lautstark.
Sie nickte. Hinter dem Dunstschleier aus aufspritzendem Wasser wirkte sie bleich, fast wie ein Gespenst.
Jupiter gab sich einen Ruck, packte das Seil und glitt nach kurzem Zögern vom Gittersteg. Ein entsetzlicher Schmerz fuhr durch seinen Körper, als er von einem Herzschlag zum nächsten frei über dem Abgrund baumelte. Zwei, drei schreckliche Sekunden lang fühlte es sich an, als würden ihm beide Arme aus den Schultergelenken gerissen, dann gewöhnten sich seine Armmuskeln allmählich an die Belastung. Unendlich vorsichtig begann er sich vorwärtszuschieben. Das Sicherungsseil um seinem Brustkorb schnürte ihm die Luft ab, und ihn überkam der irreale Drang, beide Hände vom Seil zu lösen und den Strick von seinem Oberkörper zu reißen. Aber er unterdrückte seine Panik, bekam sogar den Schmerz unter Kontrolle. Langsam bewegte er sich weiter über den Abgrund.
Coralina rief ihm etwas zu, wahrscheinlich, um ihn anzuspornen, aber er hörte sie nicht, sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten, beinahe wie in Zeitlupe.
Aufgrund seines Gewichts hing das Seil viel stärker durch als bei Coralina, und er erkannte, daß er ein weit höheres
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