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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Herzschlägen fing sie sich und rannte weiter.
    Santino folgte ihr, sprang trotz eines schwachen Beins fast noch weiter als sie selbst. Sie wartete, ließ ihn vorneweg laufen, die Schräge hinauf, über den Dachfirst und auf der anderen Seite wieder hinunter. Es war Coralina fast ein wenig unheimlich, mit welcher Zielstrebigkeit Santino den richtigen Weg fand, morschen Dachpfannen auswich und einen Haken um ein Dachfenster schlug, das versteckt hinter einem Vorsprung lag. Es war, als kenne er die Dächer hier oben ganz genau, so, als wäre er bereits früher hier gewesen und hätte sich eine Fluchtroute zurechtgelegt.
    Natürlich! dachte sie entgeistert. War es möglich, daß er bereits viel länger im Haus war als sie? Daß er als erstes hier heraufgegangen war und die Lage sondiert hatte? Seine Flucht vor was auch immer hatte ihn dazulernen lassen. Er mochte ein Mönch sein, und er mochte krank und schwächlich wirken, aber in diesem Augenblick begriff Coralina, daß Santino ganz genau wußte, was er tat.
    Der Chauffeur und der zweite Mann waren ihnen dicht auf den Fersen. Beide setzten mühelos über den Spalt hinweg; nur der Mann im Overall kämpfte kurz um sein Gleichgewicht, als unter seinen Füßen eine Dachpfanne in Bewegung geriet, abrutschte und in der Tiefe verschwand. Er selbst fing sich ohne große Anstrengung und setzte die Verfolgung fort, zwei, drei Schritte hinter dem Chauffeur.
    »Dort entlang«, keuchte Santino und zeigte nach links.
    Coralina zögerte noch, ihm zu folgen, und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Was ist mit der Tür da drüben?«
    Es war der Eingang zu einem Betonwürfel, den man wie einen Zylinder auf eines der Dächer gesetzt hatte. Vermutlich führte er in ein Treppenhaus.
    »Abgeschlossen«, zischte Santino und bog nach links.
    Coralina folgte ihm. Also war er hier oben gewesen.
    Sie rannten über eine Fläche voller Katzenkot. In einer Ecke lag ein Haufen weißer Federn, verklebt mit der schmutzigen Teerpappe. Ein paar Vogelknochen lagen verstreut daneben.
    Wieder schaute sie sich um. Der Chauffeur war näher gekommen, der andere Mann lief direkt hinter ihm. Wenn sie nicht bald einen Weg fanden, die beiden abzuhängen, würden sie sie einholen. Und dann, dessen war sie sicher, hatte auch Santino keinen Trumpf mehr im Ärmel. Mit dem Brieföffner jedenfalls, den sie immer noch in der Tasche trug, würde sie kaum etwas ausrichten können.
    »Da rauf!« kommandierte der Mönch und humpelte eine Ziegelschräge hinauf. Die Platten knirschten bedenklich -stärker noch, als Coralina ihm folgte -, aber sie hielten der Belastung stand.
    Am meisten beunruhigte sie, daß die beiden Männer hinter ihr keinen Versuch machten, sie mit Rufen zum Aufgeben zu bewegen. Sie mußten sich vollkommen sicher sein, daß es kein Entkommen für die Flüchtlinge gab. Und wenn Coralina ehrlich zu sich war … wenn sie Zeit gehabt hätte, ehrlich zu sein -, wäre sie wohl zu dem gleichen Schluß gekommen.
    Sie erreichten den höchsten Punkt der Schräge. Santino verharrte einen Moment lang und wartete, bis Coralina bei ihm war. Als sie neben ihm stand, wies er sie leise an, auf der anderen Seite einen weiten Bogen zu laufen. Ihr Blick fächerte über die abschüssige Schräge, doch sie konnte nichts Auffälliges entdecken.
    Sie bewegte sich nach rechts und hielt sich auf ihrem weiteren Weg gefährlich nah am Rand der Dachschräge. Sie befanden sich auf einer Lagerhalle, die an einen Hinterhof der Via del Governo Vecchio grenzte. Der Hof lag zwei Etagen unter ihr. Sie erkannte das Gebäude nicht auf Anhieb; in ihrem Kopf herrschte ein viel zu großes Durcheinander. Allerdings vermutete sie, daß es sich um eine der zahllosen Vespa-Werkstätten handelte, die es in diesem Viertel gab, nach Öl und Abgasen riechende Hallen, in denen junge Männer nach Feierabend ihre Motoren frisierten. Ein Blick in die Tiefe des Hofs bestätigte ihre Vermutung: Dort unten lag ein Haufen ausgemusterter Reifen.
    Jetzt erkannte sie am Ende des Daches das Stahlgestänge einer Feuerleiter, die hinunter in den Hof führte. Das mußte der Weg sein, den der Mönch ausgekundschaftet hatte. Wenn sie erst einmal dort unten waren, war es ein leichtes, ihren Verfolgern zu entkommen.
    Als sie sich umschaute, stand Santino noch immer am Giebel. Er lächelte wieder dieses befremdliche Lächeln, das so gar nicht zu ihrer Situation paßte.
    »Santino!« rief sie und hielt auf die Feuerleiter zu. »Verdammt, worauf warten

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