Das Haus des Daedalus
konzentrierte sie sich ganz auf die Geräusche von unten. Sie erkannte mindestens zwei Stimmen, ohne zu verstehen, was sie sagten. Das Glas knirschte jetzt nicht mehr; das bedeutete wohl, daß alle jetzt im Laden waren.
Coralina erreichte den Treppenabsatz des ersten Stocks. Hier lag ein verstreuter Haufen Bücher, derselbe Stapel, in den die Shuvani vor einigen Tagen hineingestolpert war, gleich nach Jupiters Ankunft. Die Bücherlieferung an Kardinal Merenda. Damals - Gott, das klang, als sei es schon Jahre her! - hatte Coralina ihrer Großmutter versprochen, die Bücher so schnell wie möglich zum Vatikan zu bringen. Die Erinnerung daran versetzte ihr einen Stich. Zu dem Zeitpunkt hatten sie noch nicht ahnen können, wie sich die Dinge entwickeln würden.
Unten schepperte etwas. Jemand stolperte und fluchte in einer harten, rauhen Sprache.
Coralina hielt vor Aufregung den Atem an. Ihr Blick glitt über den verstreuten Bücherstapel, auf der Suche nach … etwas.
Sie fand es im selben Moment, als unten im Erdgeschoß die Treppe knarzte. Die Männer kamen herauf!
Coralina packte ihren Fund … ein einfaches Blatt Papier, die handschriftliche Liste des Kardinals mit den Buchtiteln, die die Shuvani ihm hatte schicken sollen. Neben seiner Unterschrift prangte deutlich ein altmodisches Lacksiegel.
Mit dem Dokument in der Hand stürzte Coralina die Stufen hinauf. Aus dem Augenwinkel sah sie noch, wie unten jemand um die Treppenbiegung kam, ein großer schwarzer Umriß, der erstaunt aufschaute, als er Coralina die Treppe hochrennen sah.
Sie hörte, wie die beiden Männer unten im Treppenhaus die Verfolgung aufnahmen. Schwere Schritte auf den hölzernen Stufen. Ein Ruf, den sie nicht verstand.
Sie erreichte den zweiten Stock, sprintete durchs Wohnzimmer und hinaus auf die Dachterrasse. Santino war nirgends zu sehen. Durch die Fenster nahm sie die beiden Schatten wahr, die jetzt durchs Wohnzimmer huschten und ihr folgten.
Atemlos stopfte sie Merendas Schreiben zu der CD-Rom in die Hosentasche und sprang die schmale Eisentreppe hinauf, die von der Terrasse auf das höhergelegene Dach führte. Hier oben hatte Jupiter sie beim Schlafwandeln überrascht. Die Morgensonne hing glühend in einem Riß zwischen den Wolken und übergoß die Dachlandschaft mit flüssigem Gold. In Braun-und Ockertönen erstreckte sich um sie herum ein Meer aus Ziegeln und Türmen und Giebeln. Auf einem der Nachbarhäuser begannen Tauben in ihrem Verschlag zu kreischen, so als spürten sie, daß ganz in der Nähe Gefahr drohte.
Santino stand unweit eines Gitters, hinter dem sich der Abgrund der Gasse öffnete.
»Falsche Richtung!« rief sie ihm keuchend zu. »Da entlang!«
Sie deutete nach rechts, wo das Dach ihres Hauses gegen die Schräge eines benachbarten Gebäudes stieß. Fast! Denn zwischen den beiden Häusern war ein tiefer Spalt, nicht breiter als anderthalb Meter. Coralina setzte darüber hinweg, blieb dann stehen und wartete darauf, daß Santino ihr folgte.
Aber Santino stand immer noch unverändert vor dem Gitter, schaute in die Tiefe, dann zu ihr herüber … und lächelte.
Coralinas verwirrter Blick wurde abgelenkt, als ihre Verfolger die Eisentreppe heraufhetzten. Den ersten Mann erkannte sie wieder … es war der Chauffeur, der Mann, der Professor Trojan in seinem Rollstuhl in die Halle des Daedalusportal … geschoben hatte. Der zweite Mann trug einen dunklen Overall. Er war nicht kleiner als der Chauffeur, wenn auch weniger breitschultrig. Sein Gesichtsausdruck blieb ausdruckslos, nicht einmal besonders interessiert. Auf Coralina machte er den Eindruck eines Mannes, der tat, was man ihm sagte, jemand, der funktionierte, ohne moralischen Ballast. Das machte ihr beinahe mehr Angst als das überhebliche Grinsen des Chauffeurs.
»Santino!« brüllte sie. »Kommen Sie!«
Wenn der Mönch noch länger zögerte, würden ihm die beiden den Weg abschneiden. Tatsächlich setzte er sich jetzt in Bewegung, humpelte erstaunlich schnell auf sie zu, und noch immer spielte dieses sonderbare Lächeln um seine Lippen, seltsam sanft, fast freundlich; einen Moment lang verwirrte es sie so sehr, daß sie Mühe hatte, sich davon loszureißen. Dann aber wirbelte sie herum, nutzte die letzten paar Schritte bis zur Kante als Anlauf und sprang mit einem weiten Satz über die Schneise zwischen den Häusern. Beim Aufprall auf der seichten Dachschräge hatte sie kurz das Gefühl, mitsamt der Ziegeln abzurutschen, doch schon nach ein, zwei
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