Das Haus des Daedalus
Sie?«
Hinter ihm, jenseits des Dachfirsts, erschienen die Köpfe und Oberkörper der beiden Männer. Santino rieb sich das Knie seines lahmen Beins, so als hätte er Schmerzen … ein Trick, um seine Verfolger unvorsichtig zu machen. Dann aber humpelte er los, mitten über die Schräge.
Coralina blieb stehen. Sie konnte nicht anders. Sie mußte sehen, was geschehen würde, mußte wissen, was er tat -und sie fragte sich, warum er es tat.
Die Ziegel bebten unter Santinos Füßen, und jetzt fiel Coralina auf, daß sie dunkler waren als die der anderen Dächer, über die sie bisher gelaufen waren. Sie sahen aus wie verfault, stärker von der Feuchtigkeit zerfressen. Morscher.
Der Chauffeur und der zweite Mann sprangen über den First und folgten Santino. Der Abstand zwischen ihnen und dem Mönch betrug keine vier Meter mehr, gleich hatten sie ihn.
Coralina stand wie erstarrt am Gestänge der Feuerleiter und hielt sich mit einer Hand daran fest. Hinter ihr gähnte der Abgrund des Hofes, aber sie hatte nur Augen für die drei Männer.
Santino hatte sie fast erreicht, als ein berstender Laut ertönte, wie von einem festen Stück Holz, das von ungeheuren Gewalten zerbrochen wurde.
Balken! Ein Dachbalken!
Der Mann hinter dem Chauffeur blieb wie angewurzelt stehen. Entsetzen breitete sich auf seinen Zügen aus, dann haltlose Panik. Er schrie laut auf, dann senkte sich der gesamte Mittelteil des Daches mit einem Geräusch, als sei eine Abrißbirne unweit von ihnen in das Gemäuer gekracht. Wie die Zeitlupenaufnahme eines Trampolins drückte sich die Schräge ächzend nach unten durch, bildete einen Krater aus Staub und Stein und splitterndem Holz.
Santino wurde schneller … und stolperte. Drei Schritte von Coralina entfernt schlug er der Länge nach hin, und erst einen Herzschlag später erkannte sie, daß er sich absichtlich auf den Bauch geworfen hatte.
Auch der Chauffeur begriff, daß Santino sie in eine Falle gelockt hatte. Er machte einen Satz und knallte eine Armlänge hinter dem Mönch auf die berstenden Dachziegel, während hinter ihm der zweite Mann mit einem entsetzlichen Kreischen im Dach versank … und das Dach versank mit ihm!
Wie ein sandfarbener Atompilz schoß eine Staubwolke empor, breitete sich über dem Dach aus und verhüllte einige Sekunden lang den Himmel und die umliegenden Dächer. Coralina klammerte sich mit einem Aufschrei an die Feuerleiter, verlor kurz den Halt, fing sich aber wieder. Ihr Herzschlag raste, so schmerzhaft, so laut, als würde er ihren Brustkorb sprengen. Vor sich sah sie im Staubnebel eine Gestalt, die auf sie zu kroch … Santino. Sie wollte ihm entgegeneilen, ihn in Sicherheit ziehen, doch im selben Moment wurde er von hinten gepackt und zurückgerissen.
»Santino!« Sie taumelte vorwärts, ungeachtet der Gefahr. Der Rand des Daches, noch etwa drei Meter breit, war erhalten geblieben, ein gezahnter Sims mit gesplitterten, zerfressenen Kanten, und noch konnte sie hinter dem Staub nicht das ganze Ausmaß der Zerstörung erkennen. Nur eines war sicher: Der zweite Mann war fort, sie hatte ihn mit einem Großteil der Ziegel abstürzen, einfach verschwinden sehen wie eine Handpuppe in einem Kasperletheater.
Wie sein Gefährte war der Chauffeur von dem einstürzenden Dach mitgerissen worden, doch offenbar war es ihm gelungen, sich an der Abbruchkante festzuhalten.
Santinos rechtes Knie war eingeknickt, in das linke Bein hatte der Chauffeur seine Hand gekrallt. Coralina tastete sich vorwärts, fürchtete, jeden Augenblick könnte auch der Rest des Daches nachgeben. Sie streckte die Hand aus, wollte nach Santino greifen.
Doch der Mönch lächelte nur. Und schüttelte den Kopf.
Dann stieß er sich nach hinten ab, prallte mit aller Kraft gegen den völlig überrumpelten Chauffeur … und verschwand gemeinsam mit ihm in der Tiefe.
»Nein!«
Verzweifelt stolperte Coralina einen weiteren Schritt nach vorne, kämpfte sekundenlang um ihr Gleichgewicht und hörte zugleich ein lautstarkes Poltern, als die beiden Körper auf dem Boden der Halle aufschlugen, acht oder zehn Meter unter ihr. Sie fing sich mit letzter Kraft und bekam mit rudernden Armen das Gestänge der Feuerleiter zu fassen.
Eine ganze Weile lang kauerte sie einfach nur da, hockte am Rand des Daches, die Arme um das Geländer der Leiter geschlungen, horchte auf das leise Prasseln von Steinsplittern, als der Staub sich setzte, hörte aufgebrachte Stimmen unten im Hof und jemanden, der immer wieder kreischend nach
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