Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer

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Polizei und Krankenwagen rief, völlig hysterisch, so, wie sie selbst sich im Inneren fühlte; nur war sie viel zu benommen und zu schwach, um es nach außen dringen zu lassen.
    Schließlich nahm sie all ihre Kraft zusammen und stieg die Feuerleiter hinunter, hinab in einen Hof, der sich langsam mit Menschen füllte, während andere aufgebracht versuchten, die Schaulustigen fernzuhalten. Jemand sah sie und rief ihr zu, sie solle stehenbleiben, aber sie achtete nicht darauf, tauchte im Gedränge der Menge unter, warf einen letzten Blick durch das Tor der Halle, sah drei verdrehte Leiber auf einem Berg von Trümmern und Balken liegen, zwängte sich dann durch den Ansturm der Zuschauer, erreichte die Straße und lief los, so schnell sie konnte.
    Jupiters Geist schälte sich aus tiefer, allumfassender Schwärze. Sein erster Gedanke war, daß er tot sein mußte. Er war erstickt, ohne jeden Zweifel, und selbst jetzt konnte er noch nicht frei durchatmen. Aber vielleicht war das auch gar nicht mehr nötig, nicht hier … wo immer dieses Hier auch sein mochte.
    Er wußte nicht mehr, wie er in diese Lage gekommen war. Vage erinnerte er sich an Schmerzen, an Krämpfe, an unsichtbare Hände, die seine Kehle zudrückten.
    Blut unter deinen Fingernägeln.
    Er erinnerte sich an Kräfte, die seinen Magen nach aus kehren wollten, ihn umkrempelten, ausquetschten.
    Blut unter den Nägeln. Dein eigenes Blut.
    Das Jucken war noch da, er hatte es mit herübergebracht. Vielleicht hätte man ihn am Tor zur anderen Seite in Quarantäne stecken sollen. Der Mann, der den Juckreiz ins Jenseits einschleppt - das würde einen Mordsärger geben.
    »Wachen Sie auf!«
    Eine Hand klatschte in sein Gesicht, und dieser Schmerz war mit einemmal viel wahrhaftiger als der in seiner Erinnerung. Viel schmerzhafter.
    Er öffnete die Augen, und sogleich krallten sich seine Finger in die Haut seiner Unterarme, seines Halses, seiner Wangen. Das Jucken war kaum zu ertragen.
    Er bekam wieder Luft. Nicht wie früher, aber genug, um weiterleben zu können … vorerst.
    Landinis Geistergesicht grinste auf ihn herab. Weiße Geisterhände schüttelten ihn. Geisteraugen bohrten sich in seine eigenen.
    »Kommen Sie schon! Sie werden erwartet!«
    Er versuchte, den Kopf zu heben, aber sein Schädel wog plötzlich zwei Zentner, und er war sicher, würde er ihn jetzt bewegen, dann würde er ihm einfach von den Schultern rollen und irgendwo liegenbleiben wie eine alte Kanonenkugel auf den Zinnen eines Burgmuseums.
    »Man will mit Ihnen sprechen!«
    Er ballte eine Faust und überlegte benommen, ob dies ein guter Augenblick wäre, sie tief in Landinis Gespensterfratze zu graben. Bevor er zu einem Entschluß kam, traf ihn eine weitere Ohrfeige. Dann noch eine. Und noch eine.
    Jupiters Augenlider flackerten, er versuchte, tief durchzuatmen. Landini mußte denken, er hyperventiliere, denn er stieß eine Reihe von Flüchen aus, verschwand für einen Moment aus Jupiters Blickfeld und kehrte dann zurück, eine halb aufgezogene Spritze in den Händen.
    »Sehen Sie«, sagte Landini. »Ich geb Ihnen noch was.«
    »Was … was ist das?« Seine ersten gesprochenen Worte nach fünfhundert Jahren Tiefschlaf, nach fünftausend Jahren im Sarkophag eines ägyptischen Pharaos. Die Rückkehr der lebenden Leiche.
    »Ein Antihistaminikum«, sagte Landini. »Gegen Ihre Allergie.«
    Jupiter verstand nicht. War nicht Landini derjenige gewesen, dem er seinen Zustand zu verdanken hatte?
    »Warum tun Sie das?«
    »Halten Sie den Arm still!«
    Der Einstich tat weh, und die Injektion brannte höllisch … beides nicht unbedingt Anzeichen dafür, daß Landini wußte, was er tat -, aber schon nach wenigen Sekunden bekam Jupiter besser Luft, und auch das Jucken ließ ein wenig nach. Nicht völlig, natürlich nicht, darauf achtete Landini zweifellos sehr genau, aber er fühlte sich besser. Gut genug, um zu begreifen, daß sein Schwindel, die Übelkeit und die grauenvollen Kopfschmerzen nicht allein Folgen der Allergie, sondern auch des Alkohols waren. Keine Injektion der Welt würde dagegen etwas ausrichten können.
    »Wo bin ich?«
    »Wie sieht es denn für Sie aus?«
    Jupiter versuchte abermals den Kopf zu heben, und diesmal erkannte er, daß die gesamte Umgebung strahlend weiß war.
    »Ich bin im Arsch, Landini. In Ihrem, so wie ‘s aussieht.«
    Der Albino blickte Jupiter irritiert an. Was für ein unfaßbarer Triumph, daß Landini die subtilen Spitzen seines feinen Humors nicht erfaßte!
    Seine Sicht