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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die Kabine und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Eine grobgemauerte Wand rauschte an ihnen vorüber, während der Motor des antiquierten Aufzugs in der Ferne knirschte und ächzte.
    Zwei Stockwerke höher stiegen sie aus. Landini ließ den Paternoster weiterlaufen und schob seinen Gefangenen einen Korridor hinunter, dann eine schmale Treppe hinauf. Jupiter fragte sich, weshalb sie keiner Menschenseele begegneten; allmählich mußten sie sich wieder in dichter bevölkerten Teilen des Vatikans befinden. Allerdings konnte er noch immer nicht einordnen, wo genau sie waren. Er vermutete aber, daß sie sich irgendwo auf der Ostseite befanden, in einem der zahlreichen Verwaltungsbauten.
    Irgendwann wurde ihm klar, daß sie ausschließlich Fluchtkorridore und Feuertreppen benutzten. Erst kurz bevor sie ihr Ziel erreichten, traten sie auf einen Flur, der mit Teppich ausgelegt war. Die Wände waren holzgetäfelt.
    Durch eine hohe Doppeltür betraten sie ein weiträumiges Büro, dessen Wände bis an die Decke mit Plänen und Bauzeichnungen bedeckt waren. Rundherum verlief in Hüfthöhe eine Eisenstange, eine Art Haltegriff wie in einem Ballettstudio. Vor den Fenstern erstreckten sich im Licht der Morgensonne die vatikanischen Gärten, sanfte Hügel in sattem, hellem Grün; Jupiter erschienen sie so unwirklich wie die Landschaft auf einem Ölgemälde.
    In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch mit grauer Marmorplatte. In einer Tasse dampfte frisch eingeschenkter Tee. Eine zweite Tasse stand umgedreht daneben, auf einem Teller türmte sich gezuckertes Gebäck. Man hätte meinen können, Jupiter sei zu einer Geschäftsbesprechung gebeten worden, nicht zu einem Verhör oder Schlimmerem.
    »Setzen Sie sich!« Landini deutete auf einen gepolsterten Sessel vor dem Schreibtisch.
    Jupiter war dankbar, ließ es sich aber nicht anmerken. Der Fußmarsch durch den Vatikan hatte ihn ausgelaugt. Ein Schleier lag wieder vor seinen Augen, und die Stimme des Albinos hatte eine dumpfe, fremdartige Qualität bekommen. Jupiter würde bald eine weitere Injektion brauchen, diesmal stark genug, um die allergischen Reaktionen endgültig zurückzudrängen. Ansonsten würde er sich spätestens in einer Stunde wie ein getretener Hund am Boden wälzen.
    »Lassen Sie uns allein, Landini«, sagte eine Stimme in Jupiters Rücken. Er hatte nicht gehört, daß noch jemand das Zimmer betreten hatte; als er unbeholfen über die Schulter nach hinten blickte, erkannte er Professor Trojan. Die Gummiräder seines Rollstuhls glitten lautlos über den dicken Teppichbelag.
    »Sind Sie sicher …«, begann Landini, wurde aber von Trojan unterbrochen: »Unser Freund sieht nicht so aus, als wäre er in der Verfassung, mir den Hals umzudrehen.« Der Professor lachte leise, und es klang erstaunlich warm, fast freundschaftlich. »Gehen Sie nur, Landini. Und nehmen Sie sich ein Stück Gebäck mit.«
    Jupiter spürte ein hysterisches Kichern in sich aufsteigen, konnte es aber im letzten Moment unterdrücken. Landinis finstere Miene allein war es in diesem Moment wert, die mühsame Strecke bewältigt zu haben.
    Trojan rollte an Jupiter vorbei hinter seinen Schreibtisch. Er nickte ihm höflich zu, bevor er sich noch einmal an Landini wandte. »Kein Gebäck? Nun gut, dann schließen Sie bitte die Tür hinter sich.«
    Landini fuhr auf der Stelle herum, wagte aber kein Widerwort. Die Tür schlug zu, eine Spur heftiger, als nötig gewesen wäre.
    »Ein Handlanger«, seufzte Trojan, »und zu nichts anderem ist er nutze.« Er schüttelte den Kopf und lächelte Jupiter an. »Man sollte nicht meinen, daß er tatsächlich Priester im Vatikan ist, nicht wahr? Oh, nicht etwa aufgrund seiner Niedertracht … die ist hier weit verbreitet, glauben Sie mir -, nein, wegen seiner Dummheit. Können Sie sich vorstellen, daß Landini fließend Latein spricht? Ich nicht, beim besten Willen.« Wieder lachte er, und durch Jupiters benebelte Sinne drang die vage Erkenntnis, es vielleicht doch nur mit einem freundlichen alten Herrn zu tun zu haben.
    Ein Mißverständnis! Alles nur ein Mißverständnis!
    Trojan räusperte sich, ein trockenes, ungesundes Krächzen. Wieder schien sich die Wirklichkeit vor Jupiters Augen zu verzerren, zu etwas anderem, Fremdem zu verschmelzen, als sich plötzlich aus Trojans linkem Nasenloch ein dunkler Blutstropfen löste und zähflüssig auf seine Oberlippe rann.
    »Ach, verflucht«, flüsterte der Professor, zog ein Taschentuch hervor und preßte es unter seine

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