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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wurden immer mehr, eine ganze Armee von Ameisen, die ihr Gift in seine Poren spritzte und ihn in den Irrsinn trieb.
    Er spürte einen Stich in seinem Oberarm. Der Schmerz war so scharf und konzentriert, daß er Jupiter eine Sekunde lang von allem anderen ablenkte. Einen Moment war er wie betäubt, ungläubig, fassungslos, ehe die übrigen Sinneseindrücke zurückkehrten, das Jucken, das Gefühl zu ersticken, die Wogen des Deliriums, die über ihm zusammenschlugen.
    Ein neuer Schmerz, anders, grober: eine Hand, die in sein Gesicht klatschte. Dann packte jemand seine Schultern, schüttelte ihn. Eine Stimme versuchte aufgeregt zu ihm durchzudringen. Eine weibliche Stimme.
    Eine Stimme, die ihm bekannt vorkam. Und damit verbunden ein ganz anderer Schmerz, tiefgehender, aufwühlend, eine so exquisite Art der Folter, daß er sie selbst den Adepten nicht zugetraut hätte.
    »Jupiter!«
    Diese Stimme!
    Alles um ihn herum war unscharf, verzerrt. Ein heller Fleck tanzte über ihm auf und ab, immer wieder überlagert von einem geflügelten Umriß, der mit brennenden Schwingen um sich schlug, dann abwärts fiel wie ein Stein.
    Der helle Fleck … ein Gesicht.
    Schwarzes, langes Haar.
    »Cora …«
    Aber er brachte den Namen nicht zu Ende. Es war nicht Coralina.
    »Jupiter … du mußt aufstehen! … Hörst du mich? … Wir müssen hier weg! Schnell!«
    Er blinzelte, sah schmale, feine Züge. Einen kleinen Mund mit blaßrosa Lippen. Starke Wangenknochen, wie aus Porzellan geformt. Ein winziges Muttermal im linken Mundwinkel. Und dunkle, mandelförmige Augen voller Sorge.
    »Miwa?«
    Sie packte ihn erneut an den Schultern, schüttelte ihn. »Du mußt aufstehen! Wir müssen hier weg! Sie können jeden Moment hier sein.«
    Er verstand sie nicht, sah sie nur an.
    »Miwa?«
    Ein Seufzen, hell, fast kindlich. Schmale Finger strichen sanft über seine Wange, ganz kurz nur. Eine flüchtige Geste, aber stark genug, um ihn endgültig zurück in die Wirklichkeit zu holen.
    »Was tust du hier?«
    Sie warf ihr schwarzes Haar zurück, sehr sachlich, fast unweiblich. Gerade das hatte er immer so an ihr gemocht.
    »Ich rette deinen Hintern, Jupiter. Wenigstens er hat sich nicht verändert.«
    »Mein …«
    »Ja. Sieht okay aus. Hier, zieh das an!«
    Sie reichte ihm zerknitterte Priesterkleidung, schwarz und weit geschnitten. Als sie sah, daß er sie aus eigener Kraft nicht überziehen konnte, half sie ihm dabei.
    Schließlich kam er auf die Füße, halb aus eigener Kraft, halb von ihr gezogen. Dann zur Tür, hinaus auf einen Flur, eine Treppe hinauf. Weitere Türen, eine Feuertreppe.
    Dann … frische Luft. Tageslicht.
    Tageslicht!
    Und Miwa.
    Die Spritze wirkte rasch, beschleunigt durch die Anstrengung der Flucht. Sein Herzschlag raste, sein Kreislauf pumpte auf Hochtouren. Das Antihistaminikum strömte durch seinen Körper, verdrängte die allergischen Reaktionen. Die Ameisen waren die ersten, die verschwanden, danach, ganz allmählich, der Würgegriff um seine Kehle.
    Er mußte einen Moment stehenbleiben. Vor ihm leuchtete das Grün der Gärten, sonnenbeschienen, mit silbernem Flitter gesprenkelt: Regentropfen auf Blättern und Halmen, von einem Schauer, dessen Wolken bereits weitergezogen waren.
    Miwa … Miwa? … packte seine Hand, zog daran. »Wir müssen weiter. Hier kann uns jeder sehen.«
    Mit jedem Atemzug tauchte er ein wenig weiter aus seiner Benommenheit empor, wie aus einem tiefen See, über dem der Himmel immer deutlicher wurde, bis er schließlich mit dem Gesicht durch die Oberfläche brach, das Wasser aus den Augen blinzelte und in aller Klarheit die Umgebung erkannte.
    Er hatte sich nicht getäuscht. Miwa stand vor ihm. Miwa, die so abrupt aus seinem Leben verschwunden war wie die Erinnerung an einen Traum am frühen Morgen. Zartgliedrig wie eine Federzeichnung, mit glattem, schwarzem Haar, das bis zu ihrer Taille fiel. Sie trug Jeans und eine enge, hüftlange Jacke mit fellbesetztem Kragen. In ihrem Gürtel steckte seitlich eine kleine silberne Pistole. Ihn wunderte, daß er in der Lage war, solche Details zu erkennen. Seine Wahrnehmung spielte noch immer verrückt; Kleinigkeiten wurden groß und bedeutend, während das Naheliegende noch immer vor seinen Augen zerfloß.
    »Was machst du hier?« fragte er mit stockender Stimme. Er war heiser, sein Hals brannte wie bei einer starken Erkältung.
    »Nicht jetzt!« Sie zog ihn von der Mauer fort, und plötzlich war er viel zu beschäftigt, auf den Beinen zu bleiben, um weitere

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