Das Haus des Daedalus
Gesicht herum.
»Der Flug geht in anderthalb Stunden.«
»Und wohin?«
Sie hob lächelnd eine Braue. »Du fühlst dich doch nicht übergangen?«
»Überhaupt nicht.«
Sie blätterte eines der Tickets auf und hielt es ihm vor die Nase.
»Athen?« fragte er. »Warum ausgerechnet Athen?«
»Freunde von mir arbeiten dort. Wir können uns eine Weile bei ihnen verstecken. Falls das nötig ist, heißt das -ich vermute, daß Estacado die Sache im Turm vertuschen wird.« Plötzlich schien ihr etwas einzufallen, woran sie bislang noch keinen Gedanken verschwendet hatte. »Du wolltest doch nicht nach Hause, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Du hast doch erst vor ein paar Tagen gesagt, daß dort nur eine leere Wohnung auf mich wartet.«
»Das klingt verbittert.«
»Nur ein bißchen desorientiert … Aber Athen ist okay.«
Sie wirkte erleichtert, so als hätte sie allen Ernstes erwartet, er könnte es ablehnen, mit ihr zu fliegen. Sie steckte die Tickets ein, dann kreuzte sie wieder seinen Blick. Er sah ihr an, daß etwas sie beschäftigte.
»Was können wir sonst tun, außer wegzulaufen?« fragte sie.
»Wir haben gar keine andere Wahl, oder?«
Coralina nickte zustimmend und blickte über das Meer der Autodächer zu einem der weitläufigen Flughafengebäude. Im Hintergrund hob eine Maschine ab und schwebte behäbig in den stahlblauen Himmel.
»Gehen wir.«
Sie ergriff seine Hand, als sie zwischen den Wagen Richtung Terminal gingen.
»Hast du irgendwas über die Shuvani rausfinden können?« fragte er.
Ihre Finger verkrampften sich zwischen seinen. »Ich hab’s bei den Krankenhäusern versucht. Aber niemand kannte sie.«
Der Fußmarsch dauerte fast zwanzig Minuten, und Jupiter wurde klar, in welcher Geschwindigkeit Coralina die Einkäufe erledigt haben mußte, um schon nach so kurzer Zeit wieder bei ihm am Wagen zu sein. Unterwegs berichtete er, was er von Trojan erfahren hatte, über das Haus des Daedalus und über den Prozeß der Labyrinthisierung, der angeblich einsetzen würde, wenn die Tore der Carceri geöffnet wurden. Coralina erinnert sich daran, daß auch sie sich verfahren hatte, vor zwei Tagen, als sie ihm in Trastevere zu Hilfe kommen wollte; sie hatte ihm davon erzählt, als er zu Hause in der Badewanne lag. »Glaubst du, das war ein Zufall?« fragte sie, aber Jupiter zuckte nur mit den Achseln.
Die Abflughalle erstreckte sich über mehrere hundert Meter und war voller Menschen. Es tat gut, in einer Menge untertauchen zu können. Die Anonymität war wie Wellen, die über sie hinwegspülten, sie unsichtbar machten und in Sicherheit wiegten.
Das beherrschende Element der Halle war eine haushohe Statue, basierend auf da Vincis Zeichnung eines Menschen, dessen abgespreizte Glieder die Speichen eines Kreises bilden. Jupiter hatte vergessen, ob das Werk einen Namen hatte. Wohl aber erinnerte er sich an die symbolhafte Bedeutung: der Mensch als Zentrum aller Dinge. Nach allem, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hatten, und vor allem in Anbetracht dessen, was Trojan behauptet hatte, fand Jupiter, daß dies eine äußerst fragwürdige Behauptung war. Wenn auch nur ein Teil von dem, was der Professor über das Haus des Daedalus erzählt hatte, der Wahrheit entsprach, waren es keineswegs die Menschen, die die Dinge tatsächlich regelten. Dann, dachte er, basierte vielleicht weit mehr, als gemeinhin vermutet wurde, auf einer Kraft, die man heutzutage nicht mehr ernst nahm.
Coralina sah ihm an, daß er über irgend etwas nachgrübelte. »Ist es wegen Miwa?«
»Nein, nein.« Noch einmal schaute er an dem Körper des nackten Mannes empor, der wie ein Gekreuzigter im Mittelpunkt des Kreises hing. Die Ähnlichkeit zu Jesus Christus war gewiß kein Zufall. Manche von da Vincis Zeitgenossen hatten den Künstler selbst der Magie bezichtigt. Und hatte er nicht lange Jahre im Vatikan gearbeitet, unter der schützenden Hand des Papstes? Wie nahe lagen Kirche und Zauberei tatsächlich beieinander?
Und was würde geschehen, wenn jemand das Tor zum Haus des Daedalus aufstieß?
Jupiter schüttelte ungehalten den Kopf. Die Adepten wollten die Tore versiegeln, nicht öffnen. Keiner würde je erfahren, welche Konsequenzen es hatte, falls noch einmal jemand den Zugang durchschritt.
Wenn Trojan recht damit hatte, daß sich die Stadt bereits veränderte, wie schon damals, zu Lebzeiten Piranesis, dann mußte Santino mehr darüber gewußt haben. Aber der Mönch war tot. Er würde es niemandem mehr erzählen
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