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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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geschlagener Mann, verletzt und ausgelaugt. Das gelbe, ungesunde Licht verstärkte diesen Eindruck noch.
    »Santino ist tot«, sagte Coralina. »Er ist heute morgen ums Leben gekommen.«
    Dorian seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Als er wieder aufschaute, wanderte sein Blick als hektisches Flackern von einem zum anderen. »So ein Narr, einfach von hier fortzulaufen. Hier wäre er sicher gewesen.«
    »Er hat das Tor geöffnet«, warf Jupiter ein.
    Dorian nickte. »Er und die anderen. Ich habe erst davon erfahren, als es zu spät war. Seit Jahrhunderten sind wir die Hüter des Tors, und diese Dummköpfe haben alle Regeln und Gesetze mißachtet und sich am größten Geheimnis unseres Ordens vergangen.«
    »Wußten Sie, was auf der anderen Seite liegt?«
    Der Abt hob eine Augenbraue. »Wissen Sie es denn?«
    Coralina sah kurz Jupiter an und sagte dann diplomatisch: »Das Geheimnis Ihres Ordens ist keines mehr … aber das wissen Sie vermutlich, sonst würden Sie nicht mit uns darüber sprechen.«
    »Ich warte seit Tagen darauf, daß jemand wie Sie hier auftaucht, seit Santino fortgegangen ist und die Videobänder mitgenommen hat.«
    »Haben Sie die Bänder angeschaut?« fragte Jupiter.
    »Nein«, entgegnete der Abt kopfschüttelnd. »Ich bin nur der Wächter des Tors. Ich will nicht wissen, was auf der anderen Seite liegt. Glauben Sie mir, ich habe eine Heidenangst vor der Wahrheit.«
    »Aber Sie haben doch eine Vermutung, oder?«
    »Vermutungen!« rief Dorian abfällig und breitete die Arme aus.
    »Vermutungen sind nichts, sie sind wertlos. Ich kann Vermutungen über das Wesen Gottes anstellen, aber ich würde sie niemals laut aussprechen. Es gibt Fragen, die sollten nicht gestellt werden, weil es keine eindeutige Antwort darauf gibt. Es sind wertlose Fragen, Gedanken, die zu nichts nütze sind. Verschwendete Zeit.«
    Coralina runzelte die Stirn, »Ist das ihr Ernst?«
    »Es ist das, was man mich gelehrt hat. Wir Kapuziner sind keine Wissenschaftler oder Entdecker. Wir sind Heiler. Wir helfen anderen Menschen. Und wenn es ein Akt der Hilfe ist, das Tor zu bewachen, dann gehört auch das zu unseren Aufgaben.« Er machte eine kurze Pause, dann fügte er leise hinzu: »Aber ich erwarte nicht, daß Sie das verstehen.«
    »Wenn es ein Akt der Hilfe ist, wie Sie sagen, dann setzt das doch voraus, daß hinter dem Tor etwas Unheilvolles existiert«, sagte Jupiter.
    Dorian musterte ihn eindringlich. »Sie sind gekommen, weil Sie das Tor öffnen wollen, nicht wahr?«
    »Wir haben einen Schlüssel … genau wie Sie.«
    »Sie irren sich. Ich habe keinen Schlüssel, habe nie einen gehabt. Als Remeo von … dort unten zurückkehrte und Santino sah, was man ihm angetan hatte, nahm er den Schlüssel und schleuderte ihn durch das Tor in die Tiefe. Doch als Santino mir später erzählte, wie er selbst an den Schlüssel gekommen war, als er Cristoforo erwähnte und Piranesi, da wußte ich, daß es nicht damit getan sein würde, den einen Schlüssel fortzuwerfen. Mir war klar, daß es andere geben würde, früher oder später.«
    »Warum haben Sie uns dann nicht einfach fortgeschickt, wenn Sie solche Angst vor dem Tor haben?«
    Dorian stieß einen tiefen Seufzer aus. »Welchen Sinn hätte das gehabt? Sie wären irgendwann wiedergekommen, Sie oder andere.«
    »Warum weiß der Vatikan nicht, daß es hier im Kloster dieses Tor gibt?«
    »Das Tor ist Sache unseres Ordens, nicht des Vatikans«, erwiderte der Abt überraschend scharf. »Der katholische Glaube ist ein Gebilde aus Traditionen. Eine ist so wichtig wie die andere. Die Wacht über das Tor ist Teil unserer Tradition, der Tradition dieses Klosters, und sie gehört zum Aufgabenbereich der Kapuziner.«
    Jupiter schaute aus dem Fenster und sah, daß sich ein Schwarm Spatzen auf den Zweigen des toten Baumes niedergelassen hatte. Als Dorian seinem Blick folgte, erhoben sich alle Vögel gemeinsam in einer panischen Wellenbewegung und flogen davon.
    »Werden Sie uns erlauben, das Tor zu öffnen?« fragte Jupiter.
    »Warum wollen Sie das tun?«
    »Wir haben eine Menge durchgemacht«, entgegnete Coralina, »und im Grunde wissen wir nicht einmal, wofür. Menschen sind gestorben für diese Sache, nicht nur Santino. Cristoforo ist tot, und jemand, der … der uns nahestand.« Sie faßte sich sofort wieder. »Es ist an der Zeit, mehr über die Gründe zu erfahren.«
    »Werden noch andere kommen?« fragte Dorian.
    »Im Augenblick sind wir die einzigen, die einen Schlüssel besitzen.«

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